Titel: Lichtspur Eine Besprechung / Rezension von Rainer Skupsch |
Einige hundert Jahre in der Zukunft hat die Menschheit dutzende fremde Welten kolonisiert. Schon da interstellare Reisen immer mit enormem Aufwand verbunden waren, wurden viele dieser Planeten von „genetischen Konzepten“ (Klonen) erschlossen, die - ohne Bürgerrechte - von ihren Erschaffern billig ‚produziert’ und ausgebeutet werden konnten. Schließlich kam es zu Aufständen, in deren Folge die Konstrukte Welten übernahmen und dort Gesellschaftssysteme errichteten, in deren Brutstationen sehr schnell sehr große Armeen herangezüchtet werden könnten. Letztliches Ziel der „Syndikate“ genannten Systeme scheint die Errichtung eines Kollektivbewusstseins, bei dem der Einzelne keine größere Rolle spielt als die einer Arbeiterameise.
Gut zehn Jahre vor Beginn der Romanhandlung kam es zum Krieg zwischen den Syndikaten einerseits und den von den Vereinten Nationen verwalteten Welten. In dieser Auseinandersetzung (und im Kalten Krieg seitdem) konnten sich die UN-Truppen nur deshalb behaupten, weil die UN - nicht aber die Syndikate - über „Bose-Einstein-Kondensate“ [im Folgenden abgekürzt als „B-E-K“] verfügen. Nur dank dieser Kondensate ist im UN-Bereich das Reisen mit Überlichtgeschwindigkeit möglich, existiert eine Art ‚Internet’, das die Kommunikation ohne zeitliche Verzögerung erlaubt.
Gar nicht auszudenken, was passieren würde, wenn es den Syndikaten gelänge, sich B-E-K zu verschaffen. Letztere kommen nur auf einer bekannten Welt vor - Compsons Planet - und werden vor Ort in Bergwerken abgebaut. Ebendort kommt es zu einem Unfall (?), bei dem Hannah Sharifi stirbt: eine geniale Physikerin und „das berühmteste Konstrukt im gesamten UN-Raum“. (S. 64) Sharifi, die Erschafferin der Bose-Einstein-Technologie, stand nach eigener Behauptung „kurz vor der Entwicklung einer Kultivierungsmethode für transportfähige Bose-Einstein-Kondensate“. (S. 65) Ist ihr der Durchbruch tatsächlich vor ihrem Tode noch gelungen? Niemand weiß es, denn Sharifis Arbeitsunterlagen sind unauffindbar.
An dieser Stelle kommt Major Catherine Li ins Spiel. Sie wird nach Compsons Planet geschickt, um zu verhindern, dass Wissen in die Hände der Syndikate gelangt, welches es ihnen erlauben würde, B-E-K synthetisch herzustellen. Li fühlt sich bald als Spielball in einem Konflikt, bei dem die Motive der Beteiligten ihr ein Rätsel sind. Selbst bei ihren Verbündeten kann sie sich nicht sicher sein: Was treibt ihren freiberuflichen Kollegen Cohen an, die älteste (und exzentrischste) bekante KI - die in einem ihrer menschlichen Wirtskörper früher einmal Lis Geliebter war. Und warum hat ihre Chefin, General Nguyen, ausgerechnet sie für diesen Einsatz ausgewählt? Li wuchs auf Compsons Planet auf - bis es ihr gelang, sich heimlich genetisch verändern zu lassen und in die UN-Truppen aufgenommen zu werden. Denn was niemand jemals erfahren soll: Catherine Li ist selbst ein genetisches Konstrukt, ein Umstand, der, wenn er bekannt würde, ihrer Karriere sofort ein Ende setzte. Und Li ist Hannah Sharifis genetischer Zwilling
Bei der Beschäftigung mit Chris Moriartys Roman drängen sich zwei Begriffe auf, die den Leser nicht wirklich weiterbringen: Chickpunk und Hard-SF.
Wo Frank Herbert einstmals das ‚Spice’ erfand, um einen Grund für nicht enden wollende Konflikte zu finden, bedient sich Moriarty bei den vordergründig viel realeren ‚Bose-Einstein-Kondensaten’. Diese sind offenbar in der Physik seit Langem bekannt. Moriarty geht so weit, ihrem Buch eine mehrseitige Bibliographie mit Werken zu verschiedenen Themen der Quantenphysik anzuhängen. Für Physikinteressierte ist dies sicher ein nützlicher Service, für das Verständnis des Romans jedoch ohne Bedeutung. Ich will hier gar nicht ausschweifend darüber diskutieren, ob die Autorin sich auf wissenschaftlich sicherem Terrain bewegt (meinen Informationen aus dritter Hand zufolge können Bose-Einstein-Kondensate nur bei Temperaturen nahe dem absoluten Nullpunkt existieren - während sie auf Compsons Planet in Bergwerken abgebaut werden). Für die Romanhandlung wird ein Mittel benötigt, sich überlichtschnell von A nach B zu bewegen, sowie eine Technik zur Telekommunikation ohne zeitliche Verzögerung. Beides liefern die B-E-K Moriarty - und natürlich den Vorwand, der die Handlung am laufen hält. Letztlich hätte es keinen Unterschied gemacht, irgendein technisches Superdingsbums zu erfinden, wie in guten alten SF-Tagen.
Etwas wichtiger für den Roman als die Hard-SF-Elemente ist die Action. Auf ihrer Homepage [www.sff.net/people/moriarty/chickpunk.html] erklärt sich Moriarty zum Teil einer sogenannten Chickpunk-Bewegung:
Chickpunk is my rough and ready name for a number of women who write hard SF or military SF with a cyberpunk slant and who I think are creating a new and exciting kind of science fiction. These women are turning many of the underlying assumptions of feminist (and anti-feminist) SF on their heads. Their writing crosses genre boundaries to draw on spy thrillers, hardboiled detective stories, and other traditionally masculine genres. Their heroines are hackers and physicists, soldiers and street samurai. They're realists for the most part, no great believers in easy answers. But their realism is more than just an echo of cyberpunk street cool; in the hands of these writers it's also a way of reexaminining the assumptions of both mainstream SF and cyberpunk and opening up new visions and new possible futures. There's been a lot of controversy about these writers, partly because they don't fit neatly into any of the boxes people have built for SF written by and about women.
Wahrscheinlich räume ich Chris Moriartys Ausführungen hier viel zu großen Raum ein; zu offensichtlich ist, dass sie hauptsächlich die Werbetrommel für sich selbst schlägt. Aber das Zitat liefert mir einige Stichworte, an denen ich mich abarbeiten kann. Bleiben wir zuerst einmal bei der ‚Action’. Am Anfang des Romans (genauer gesagt auf den Seiten 26-46) steht eine Ballersequenz, wie wir sie aus James-Bond-Filmen kennen. Viel später dann folgt ein langer Einsatz, der direkt aus „Mission Impossible“ stammen könnte, und ganz am Ende gibt es noch einen ausführlichen Showdown. Damit haben wir immerhin ein Fünftel der Handlung abgedeckt.
Die restliche Zeit über bietet die Autoren tatsächlich häppchenweise Elemente aus Spionagethriller, Krimi und anderem mehr, auf das ich gleich eingehen werde. Vor allem stellte sich mir beim Lesen des Zitats aber die Frage, was eigentlich so „new and exciting“ an „Lichtspur“ ist. Gut, wir haben hier einen Roman über eine kybernetisch aufgerüstete Elitesoldatin, die ausnahmsweise nicht weiß und angelsächsischer Herkunft ist, sondern Koreanerin. Ist das bereits innovativ? Ich meine, mich aus den letzten Jahrzehnten an zahlreiche (schlechte) Sci-Fi-Filme mit ähnlichen Heldinnen zu erinnern. Ein bisschen anspruchsvoller ist „Lichtspur“ natürlich schon, aber der Filmvergleich ist durchaus angebracht. Moriartys Debütroman bedient sich einer ausgesprochen filmischen Erzählweise. Wir haben es hier mit einem Buch zu tun, in dem sehr viel geredet wird - und das ist noch untertrieben. Seite um Seite bietet uns die Autorin Dialoge zwischen ihrer Protagonistin (deren Perspektive Moriarty durchweg beibehält) und den Menschen, die ihren Weg kreuzen. Diese Dialoge sind lang, sehr lang und bewegen sich auf dem sprachlichen wie intellektuellen Niveau neuerer amerikanischer Fernsehserien.
Chris Moriarty hat sich gewiss eine Menge Gedanken darüber gemacht, was sie alles in ihre Story aufnehmen könnte. So lässt sie denn böse Gangster, zwielichtige Gewerkschafter, Lis Adoptivmutter, einen Priester, Syndikatsklone und Militärs kurz auf- und wieder abtreten, ohne dass irgendeine dieser Personen große Bedeutung erlangte oder gar in Erinnerung bliebe.
Während ich diese Zeilen schreibe, habe ich die Namen fast aller Personen in diesem Roman wieder vergessen, und wenn ich mir nicht beim Lesen zahlreiche Notizen gemacht hätte, wäre mir schon lange nicht mehr klar, wer welche Funktion in der Geschichte zu erfüllen hatte. Wenn überhaupt etwas vom Inhalt in Erinnerung bleibt, dann ist das zum einen die Situation auf Compsons Planet - schon deshalb, weil Moriarty hier Bekanntes neu zusammenmischt: Über der Erde skizziert sie eine Art Nordirland des 25. (26.?) Jahrhunderts; unter der Erde lässt sie mit den Mitteln des 19. Jahrhunderts B-E-K abbauen (der Einsatz moderner Technik würde die Kondensate unweigerlich zerstören), sodass man sich als Leser vorkommt wie in einem viktorianischen Roman.
Das mit Abstand Wichtigste an diesem Roman ist aber die Beziehung zwischen Li und Cohen. Cohen macht Li den Hof, und Li sträubt sich, weil sie aus Notwendigkeit gelernt hat, als Konstrukt, das vorgibt, nur ein Viertelkonstrukt zu sein, niemandem zu vertrauen. Das bietet reichlich Raum für - genau - ausführliche Gespräche, wie wir sie aus zahlreichen TV-Serien kennen. Ist das nun „new and exiting“? Irgendjemand muss das so empfunden haben; immerhin wurde Chris Moriartys Roman gleich für mehrere Genrepreise nominiert.
Bei nochmaligem Durchsehen meiner Aufzeichnungen fällt mir auf, dass ich wieder einiges habe unter den Tisch fallen lassen. Aber was soll’s: Entscheidendes ist nicht darunter. Das folgt jetzt im Fazit:
Lichtspur ist ein 700-Seiten-Roman, der 400 Seiten zu lang ist. Er jongliert - kompetent, falls Sie als Leser keine literarischen Ansprüche anlegen - mit zahlreichen Themen, ohne ein einziges davon angemessen zu behandeln.
Was nach dieser Lektüre im Gedächtnis bleibt, sind ein Eindruck allgemeiner Redseligkeit sowie eine KI, die sich genauso heißblütig an die Dame ihres Herzens heranschmeißt wie nur irgendein Zweibeiner mit deutlich geringerem Speicherplatz. Offensichtlich ist bei vernunftbegabten Wesen die Übernahme romantischer kultureller Konzepte der logische Höhepunkt aller evolutionären Prozesse.