| Stories: Star of Epsilon; Pithecanthropus Blues (1987); Ferryman (1991); The Disciples of Apollo (1989); The Phoenix Experiment (1991); The Crimes of Domini Duvall (2000); Downtime in the MKCR (1994); Venus Macabre (1998); Dark Calvary (1999) Eine Besprechung / Rezension von Rainer Skupsch |
Seit dem Erscheinen seiner ersten SF-Story im Magazin Interzone 1987 hat sich Eric Brown in Großbritannien als Autor einiger Romane, mehr noch aber kürzerer Prosastücke ein gewisses Renommee erschrieben. Brown hat sein Verhältnis zu den verschiedenen Textarten 2005 in einem Interview mit seinem Freund Keith Brooke auf den Punkt gebracht:
"I think I'm a better short story writer than a novelist. Novels I find very hard, hours and hours, weeks and weeks, of conscious thought--whereas short stories slip out painlessly in a few days. I like the idea of being able to encompass an idea succinctly [kurz und bündig auf den Punkt bringen] within a few pages, but at the same time have the structure of a novel inherent in the tale. (...) [My] stories are structured with a beginning, middle and end, with definite resolutions [Auflösungen] and (I'd like to think) strong characters. (...) I think it's a short story writer's duty, as well as writing well about emotions and characters, to write story." [InfinityPlus, 2005]
Die vorliegende Rezension befasst sich nicht mit einem Buch des Autors, sondern schlicht mit allen von Brown derzeit frei aus dem Netz herunterladbaren Geschichten. Insgesamt sind dies acht short stories sowie eine novelette ("Dark Calvary"). Bei vom Autor selbst zu verantwortenden Zusammenstellungen erlangt die Auswahl und Reihenfolge der einzelnen Geschichten eine gewisse Bedeutung. Davon muss dieses Mal natürlich abgesehen werden. Dafür, dass mehrere der Storys doch große inhaltliche Ähnlichkeiten aufweisen, ist Eric Brown gleichfalls nicht verantwortlich zu machen. In seinem beträchtlichen 'Oeuvre' hätte sich sicher eine ausgewogenere Mischung finden lassen.
Ich habe an dieser Stelle in der Vergangenheit Browns erste zwei Romane besprochen (Tage auf Meridian, Das Nada-Kontinuum) und bin bei diesen Anlässen bereits auf die Vorlieben und Vorgehensweisen des Autors eingegangen. Deshalb werde ich dieses Mal etwas sparsamer mit wörtlichen Zitaten umgehen. Die Mehrzahl der folgenden Geschichten ist in dem Universum der beiden erwähnten Romane angesiedelt. Der Autor erweist sich hier wie immer als kompetenter Erzähler, dem es mehr um Personen und Atmosphäre denn technische Einzelheiten geht. Allerdings werden auch wiederholt seine Grenzen sichtbar. So sehr ihm die Charakterzeichnung am Herzen liegt, finden sich doch ständig ähnliche Protagonisten: Kaum eine Geschichte kommt ohne einen (pathologisch) einsamen Erzähler aus. Errettung aus seiner Not erhofft er sich durch die Liebe, oder aber er sucht Zuflucht in Drogen.
Probleme sind stets von existenzieller Bedeutung und auf eine Weise knapp begründet, die den Personen eine theatralische Aura verleiht. Francesca Rodriguez etwa in "Dark Calvary" ist von der Suche nach metaphysischer Erleuchtung besessen, weil sie seit dem frühen Tod ihres Vaters eine panische Angst vor dem Sterben hat. Dieser Zusammenhang muss dem Leser als Begründung für ihr irrationales Handeln im Verlaufe der novelette ausreichen. Nicht nur in dieser Erzählung gewinnt man den Eindruck, dass subtilere, vielschichtigere Charakterzeichnungen wohl jenseits Eric Browns schriftstellerischer Möglichkeiten liegen.
Trotzdem aber haben mir einige der Geschichten gut gefallen. Von den charakterlastigen 'Einsamkeitsstorys' ist da vor allem "Ferryman" zu nennen, in der es ausnahmsweise nicht um die große romantische Liebe geht. Außerdem sind die plotlastigen Storys "Venus Macabre" sowie "Pithecanthropus Blues" uneingeschränkt empfehlenswert.
Noch eine kurze Anmerkung vorneweg: Da mir jede Anordnung der Einzelgeschichten willkürlich vorkommt, habe ich mich entschieden, die Reihenfolge beizubehalten, in der ich sie gelesen habe.
Star of Epsilon
Die Handlung der Geschichte spielt in dem Paris, das Brown-Lesern bereits aus "Das Nada-Kontinuum" bekannt ist. Abe ist ein alter Varietékünstler, der jede zweite Nacht in der Blue-Shift-Bar die Kundschaft - von Kortikalimplantat zu Kortikalimplantat - mit den Emotionen und Erinnerungen eines alten Antriebsmanns unterhält, der allein mit seiner Gedankenkraft einst Sternenschiffe überlichtschnell durchs Universum lenkte. Eines Tages wird Abe von einer 15-jährigen Kollegin angesprochen, der Deutschtürkin Jodie Schimelmann. Jodie ist todkrank und sieht ihre einzige Überlebenschance darin, aus der Halle für außerirdische Artefakte im Louvre einen sagenumwobenen heilenden Diamanten, den "Star of Epsilon", zu entwenden. Dafür benötigt sie Abe, der für sie mit einem Schiff über den Hyperraum in das Museum eindringen soll. Abe kann dem Mädchen die Bitte nicht abschlagen und steht nun vor einem Dilemma: Er hat nie wirklich ein Schiff gelenkt; all seine Erinnerungen sind gekauft, aus zweiter Hand.
Wie genau der Raub des edlen Steins vor sich ging, habe ich auch bei der zweiten Lektüre nicht verstanden. Das ist aber schon der einzige Kritikpunkt an einer lesenswerten Story.
Pithecanthropus Blues (1987) [erschienen in der Sammlung "The Time-Lapsed Man and Other Stories" (dt.: "Pithecanthropus Blues")]
Chester Carnegie arbeitet seit einigen Monaten auf einer Orbitalstation um die Sonne. Zwei Mal innerhalb kurzer Zeit erleidet er eine Art Anfall, bei dem er das Bewusstsein verliert und anschließend 1 Million Jahre in der Vergangenheit als Humanoide auf einer Savanne erwacht. Er ist er Mitglied einer stinkenden Horde, die nicht vor Kannibalismus zurückschreckt. Zum Glück währen diese Episoden nicht lang. Als Chesters Verstand zum zweiten Mal in seinen eigenen Körper zurückkehrt, liegt er nackt in einer Abwasserleitung der Station. Chester findet heraus, dass in seiner Abwesenheit irgendjemand einen Mord begangen und das Opfer angefressen hat.
Tief besorgt wendet er sich an die Stationsklinik und erfährt, dass er an einer sehr seltenen Krankheit leide, nämlich "Ancestral Persona Exchange". Fatalerweise verläuft diese Krankheit immer gleich: Insgesamt fünf Mal tauscht der Betroffene mit einem seiner Vorfahren die Körper; der letzte Transfer wird dann nicht mehr rückgängig gemacht. Chester verzweifelt schon bei der Aussicht darauf, seinen Lebensabend als 'haariger Affe' zu verbringen, als sich sein früherer Arbeitgeber bei ihm meldet: die Canterbury Line, für die er jahrelang als Antriebsmann arbeitete. Die Firma kennt den eigentlichen Grund für Chesters Dilemma und schickt ihn zur 'Therapie' zu einer jungen, hübschen Prostituierten. Deren Genesungsplan klingt vielversprechend - nur berücksichtigt er nicht Chesters Vorfahren Gna, der bei jedem Anfall auf der Orbitalstation seinen alten Gewohnheiten frönt.
In einem kurzen Vorwort beschreibt Eric Brown die Geschichte als "a light, and light-hearted tale", und das ist sie in der Tat. Brown benutzt eine blutige, abstruse Handlung gerade nicht als Rohmaterial für ein Splatterfestival, sondern beweist einen Sinn für staubtrockenen schwarzen Humor. Er umschifft (so eben) die Klippen der Logik und überrascht mit einem Helden, der, anstatt wahnsinnig zu werden, letzlich einen entspannten Pragmatismus an den Tag legt.
Ferryman (1991) [enthalten in der dieses Jahr erscheinenden Story-Suite "Kethani"]
Seit einem Jahr arbeitet Richard Lincoln als sogenannter Fährmann für die Kethani, eine außerirdische Zivilisation, die angeboten hat, jeden Menschen, der dies möchte, nach seinem irdischen Tod mittels Nano-Technologie zu neuem, unsterblichem Leben zu erwecken. Lincoln holt die Leichen ab und fährt sie zur nächsten Transmitterstation. Oft muss er Hinterbliebene beruhigen, die aus religiösen Gründen - oder weil sie an den Motiven der Außerirdischen zweifeln - Ängste plagen. Diese Menschen versucht Lincoln zu beruhigen: Ihren Verstorbenen werde nichts Böses zugefügt. Ganz im Gegenteil böte sich ihnen die Chance, später als Forscher und friedliche Gesandte das Universum zu bereisen - oder einfach zu ihren Lieben zurückzukehren.
Wahrscheinlich entsprechen Lincolns Erklärungen durchaus der Wahrheit. Im Mittelpunkt der Geschichte steht jedoch nicht die Zukunft der Menschheit, sondern die Person Richard Lincoln: ein Mann, 55 Jahre alt, dem es Zeit seines Lebens schwer gefallen ist, Gefühle zu zeigen. Seine innere Kälte hat ihn schließlich von seiner langjährigen Ehefrau und seiner Tochter Susanne entfremdet.
Lincoln lebt fernab aller Menschen und befestigten Straßen in einem Cottage in Yorkshire. In diesem Leben funktioniert er lediglich noch, und auch die allmähliche Versöhnung mit Susanne wird ihn nicht von seiner Einsamkeit befreien. Eric Brown beschreibt diesen Mann zurückhaltend und ohne große Effekte, und doch geht Lincolns Einsamkeit - dieses Mal - dem Leser ans Herz.
The Disciples of Apollo (1989)
Der Akademiker Maitland erkrankt an einem seltenen Syndrom (dem einzigen phantastischen Element der Story), das ihn innerhalb der nächsten sechs bis neun Monate töten wird. Ein verschlossener Mensch, der nie wirklich gelebt hat, badet Maitland zuerst in Selbstmitleid. Dann aber lernt er im Sterbehospiz die wunderschöne, junge Caroline kennen und findet doch noch ein spätes Glück.
"The Disciples of Apollo", benannt nach einem religiösen Kult der Hospizpatienten - und der Art ihres Todes -, zählt zu Browns Lieblingsstorys. Er selbst fasst den Inhalt so zusammen: "I wanted to write a story about someone who realises, too late, that his life to date [bisher] has been a waste, an emotional blank [Leerstelle], and I also wanted to write a story of redemption [Erlösung]." Offensichtlich liegt ihm die Geschichte sehr am Herzen, allerdings ist ihre Ausführung ähnlich schematisch und leicht süßlich geraten wie die Inhaltsangabe des Autors.
The Phoenix Experiment (1991)
Laut Eric Brown ergänzt "The Phoenix Experiment" thematisch die zuerst geschriebene Erzählung "The Disciples of Apollo". Im Zentrum beider Geschichten stehen Männer, die unfähig sind, Gefühle zu zeigen, geschweige denn zu empfinden.
Jonathon Fuller kann sich nicht verzeihen, dass er seiner Adoptivtochter im Stich ließ, als sie im Sterben lag. Er mietet sich ein Häuschen auf dem Gelände eines Reha-Zentrums für Raumfahrer und lernt dort eine wunderschöne - und von allen anderen Patienten gemiedene - junge Frau kennen. Durch ihre äußerliche Hilfsbedürftigkeit und emotionale Gleichgültigkeit ermutigt, vertraut er seinen Selbsthass zum ersten Mal einer anderen Person an und muss erkennen, wie viel er mit dem Mädchen gemein hat, das alle Patienten nur das "Phoenix Line experiment" nennen. Zwei Geschichten über einsame Männer, die sich von jungen Frauen retten lassen wollen. Was diese Version akzeptabler macht, ist das ausweglose Ende.
The Crimes of Domini Duvall (2000)
Vor fünf Jahren warf der Unfalltod seiner Frau den Künstler Eric Chandler vollkommen aus der Bahn. Als er sich endlich wieder anschickt, sein Leben fortzuführen, lernt er in einer Künstlerkolonie der Sahara Domini Duvall kennen und verliebt sich nach anfänglichem Zögern leidenschaftlich in sie. Dann jedoch betritt der berühmte Kritiker Douglas Wiltshire die Bühne und beschuldigt Domini, erst kürzlich ihren Ehemann ermordet zu haben.
Und wieder eine tragische Geschichte um einen Mann in mittleren Jahren und eine wunderschöne, jüngere Frau. Dieses Mal schwebt der Geist von J. G. Ballards Vermilion-Sands-Storys durch die Szenerie. Die Grundkonstellation der Handlung ist langsam, aber sicher vertraut - und das Ende vorhersehbar.
Downtime in the MKCR (1994)
Lewis Sinclair hat Krebs im Endstadium. Seine Ärzte haben ihm geraten, seine letzten Tage angenehm und schmerzfrei zu gestalten; darum hat Lewis im "Milton Keynes computer network" vier Wochen Urlaub in der virtuellen Realität gebucht. Schon nach wenigen Tagen auf der Insel "New Crete" trifft er den wunderschönen, jungen Andy Taylor und verliebt sich in ihn. Seine Zuneigung wird erwidert; alles scheint wunderbar. Dann aber hackt sich eine kretische Unabhängigkeitsorganisation ihren Weg in die Mittelmeer-Idylle und begeht einen mörderischen Terroranschlag. Lewis' Traum von einem Lebensende als gesunder junger Mann zerplatzt wie eine Seifenblase.
Noch einmal große Gefühle, die (wie auch in "The Disciples of Apollo") ein harmonisches Ende nehmen dürfen, weil der Tod eh bald einen unabänderlichen Schlusspunkt setzen wird.
Venus Macabre (1998)
Jean Philipe Devereaux ist auf allen von Menschen besiedelten Welten als Performance-Künstler der extremen Art berühmt. Regelmäßig lässt er sich auf offener Bühne töten, um die Zeit bis zur Neuerschaffung seines Körpers in einer kleinen Metallspinne zu verbringen, die als digitale Kopie seines Ichs die meiste Zeit über in seinem Kopf haust. Während die Öffentlichkeit darüber diskutiert, was Devereaux künstlerisch aussagen will, durchschaut allein Daniel Carrington, Moderator einer venusischen TV-Show über Selbstmörder, die Auftritte als Akte der Selbstbestrafung. Als Devereaux den Journalisten zum Helfershelfer für seinen endgültigen Exitus einspannen will, muss er erkennen, dass Carrington aus persönlichen Gründen allen Anlass hat, diesen Abschied zu sabotieren.
"Venus Macabre" ist ganz sicher eine der besten Geschichten, die in dieser Rezension behandelt werden. Wie fast immer ist das Maß an Schuld, Sühne und Einsamkeit beträchtlich; jedoch steht diesmal die Handlung eindeutig im Mittelpunkt - und die ist sehr gelungen geplant.
Dark Calvary (1999) [abschließende Erzählung der Story-Suite "The Fall of Tartarus"]
Bei seiner Arbeit als Lehrer auf Raumschiffen lernt Hans Cramer die blutjunge Francesca Maria Rodriguez kennen. Im Laufe der Zeit wird er zu ihrem väterlichen Freund, Mentor und endlich Liebhaber. Als Francesca Jahre später mit ihrem Raumschiff über Tartarus Major abstürzt, nimmt Cramer das nächste Raumschiff, um zu ihr zu eilen.
Er findet sie bald, unverletzt, in Gesellschaft eines Abtes der "Church of the Ultimate Sacrifice", der sich aus religiöser Überzeugung körperlich immer weiter verstümmelt. Francesca hat vor, zusammen mit dem Abt im Dschungel nach einem Tempel zu suchen, dem die Mönchsgemeinschaft der "Church" große spirituelle Bedeutung beimisst. Als rational denkender Mensch, der (wie Brown selbst) organisierte Religion einzig als ein Mittel ansieht, seine Mitmenschen zu beherrschen, und als anscheinend soeben entmachteter Lehrer reagiert Cramer aggressiv eifersüchtig und erschießt die junge Frau im Suff.
Vier Monate später besucht der Abt ihn auf der Erde. Er teilt ihm mit, Francesca sei von den Toten auferstanden und wolle ihn auf Tartarus treffen. Noch einmal reist Cramer auf den - mittlerweile evakuierten - Planeten, den in wenigen Wochen eine Supernova verschlingen wird ...
Die Erzählung hält, was der Titel verspricht. Brown spielt mit den bekannten Klischees des Wunderglaubens und der Heiligengeschichten - und serviert zuletzt ein "Düsteres Golgatha", eine Breitseite gegen die Glaubensschwärmerei, die keine Gefangenen macht und der als erstes die Charakterzeichnung zum Opfer fällt: Warum Cramer zum Mörder wird, wird nicht schlüssig erklärt, und zum wiederholten Male demonstriert ein Protagonist seine Schuldgefühle durch extremen Alkoholismus.