Serie: ~ Eine Besprechung / Rezension von Rainer Skupsch |
In der gar nicht so fernen Zukunft von Eric Browns zweitem Roman hat die Erde hunderte Kolonialplaneten besiedelt. Möglich wurde diese Expansion durch die sogenannten "Antriebsleute", Menschen, die in einem tranceähnlichen Zustand Raumschiffe in ein anderes Universum, "Nada-Kontinuum" genannt, versetzten und dort überlichtschnell ihre Zielkoordinaten ansteuerten. Antriebsleute erlebten in diesem Nullraum so intensive Glückszustände, dass die meisten von ihnen ihr eigentliches Leben aus dem Auge verloren und nur noch für ihre `Sucht’ existierten. Genau so erging es auch Ralph Mirren, der zu Beginn seiner Karriere kurz nach der Hochzeit Ehefrau und Baby sitzen ließ. Jahre später endete seine Laufbahn, als sein Raumschiff über der Kolonialwelt Hennessy’s Reach zu früh aus dem Nada-Kontinuum austrat und in den äußeren Schichten der Atmosphäre zerschellte. Wie durch ein Wunder überlebten Ralph und seine Antriebskollegen die Katastrophe. An alles, was nach ihrer Bruchlandung auf der Planetenoberfläche passierte, können sie sich jedoch nicht mehr erinnern. Kurze Zeit später endete das Zeitalter der Großraumer mit der Entwicklung der Interface-Technologie. "Keilor-Vincikoff-Interfaces" sind riesige Sternentore, die, innerhalb weniger Jahre auf allen Menschenwelten errichtet, interstellare Reisen in Nullzeit und `zu Fuß’ ermöglichen. Passagiere brauchen nur ein auf ein anderes Zieltor ausgerichtetes Interface zu durchschreiten, um bis zu dreitausend Lichtjahre zu überwinden. Bald wurden alle Raumer verschrottet und die interstellare Raumfahrt sogar verboten.
Auch im Leben von Ella Fernandez spielte Hennessy’s Reach eine bedeutende Rolle. Hier entfremdete sich das heranwachsende Mädchen von ihrem Vater, der damals gerade die Karriereleiter der Danzig-Organisation nach oben kletterte, einer totalitären Kolonialmacht, die in den Randgebieten der menschlichen Besiedlung eine Welt nach der anderen an sich riss. Sobald Ella fünfzehn Jahre alt - und damit volljährig - wurde, brach sie jeden Kontakt zu ihrem Vater ab und verließ Hennessy’s Reach Richtung Erde.
Zehn Jahre später leben sowohl Ralph als auch Ella in Paris, einer Stadt, die sich langsam, aber sicher in einen extraterrestrischen Dschungel verwandelt. Auf dem Raumhafen von Paris-Orly wurde seinerzeit das allererste Interface errichtet. Im Laufe der Jahre transportierte es unabsichtlich während seiner Aktivphasen immer auch Sporen und Samen zwischen den Welten hin und her, die nach und nach die Biosphäre der Hauptstadt so nachdrücklich kontaminierten, dass weite Teile von Paris mittlerweile von Pflanzen überwuchert und von den Bewohnern aufgegeben worden sind. Wie viele ehemalige Antriebsleute hat es Ralph in diese Stadt gezogen, weil er das Gefühl hat, in der Nähe eines Interfaces dem Nada-Kontinuum nahe zu sein. Die allermeisten Antriebsleute haben sich früher oder später der "Kirche der Anhänger des Nada-Kontinuums" angeschlossen, die in dem Nullraum das Jenseits oder Nirwana sieht, den Ort ewiger Glückseligkeit. Immer wieder versuchen Antriebsleute während der Passivphasen zwischen den Säulen des Interfaces ihrem Leben ein Ende zu setzen, im Glauben, dadurch für immer ins Kontinuum zurückzukehren. Ralph, als Atheist, stet dieser Ausweg nicht offen, zumal er sich um seinen behinderten Bruder kümmern muss.
Eines Tages geschehen zwei Dinge: Ralph wird von dem geheimnisvollen Hirst Hunter kontaktiert, der ihn mit der schon nicht mehr für möglich gehaltenen Chance lockt, wieder ein Schiff anzutreiben. Gleichzeitig erhält Ella eine Botschaft ihres Vaters, die sie im ersten Ärger vernichtet. Dann aber macht sie sich auf den Weg nach Hennessy’s Reach - und stolpert in einen Bürgerkrieg. Bald geraten beide Protagonisten in Todesgefahr, während sie entdecken, dass sie Teil einer Entwicklung geworden sind, die die Grundfesten allen menschlichen Lebens erschüttern könnte.
In Eric Browns zweitem Roman geht es ganz konkret um das Seelenheil des Menschen. Brown, selbst ein Agnostiker, will dabei keineswegs für irgendeine real existierende Religionsgemeinschaft Werbung betreiben: "It seems obvious to me that every religion is merely a set of ideas brought about by the vested interests [Eigeninteressen] of those in power or those who desire power," meinte er unlängst in einem Interview in InfinityPlus; und obwohl er das Nada-Kontinuum zur Hoffnungsquelle der Menschheit erhebt, nimmt er die Religion der "Nadaner" nicht von seiner Kritik aus: Ralph Mirren besucht einmal die Pariser Kirche dieser Sekte und erlebt eine Mischung aus katholischer Messe und fortgeschrittenen Special Effects. Wie schon in seinem Debütroman Tage auf Meridian sind Browns Charaktere in Das Nada-Kontinuum einsame Einzelgänger auf der Suche nach Erlösung. Schien diese in dem Erstling aber noch durch die romantische Liebe erreichbar, geht es im vorliegenden Buch um die Wiedervereinigung zerbrochener Familien und das ewige Leben. Für Letzteres ist dann aber weder Gott noch das buddhistische Nirwana zuständig. Brown ersetzt (wie scheinbar noch mehrfach in späteren Romanen) Gott durch Außerirdische und offenbart dadurch wohl ein selbst in seinem `gottlosen’ Geist vorhandenes Bedürfnis nach Metaphysik.
Stilistisch folgt Brown im Nada-Kontinuum erneut seiner Maxime "craft over ornate style." Browns Prosa wirkt in der deutschen Übersetzung einfach und klar. Zwar erreicht sie nirgends Momente poetischer Schönheit, kommt aber auch gänzlich ohne sprachliche Plattitüden aus. Einigen anderen Forderungen an sich selbst wird der Autor leider weniger gerecht: "If the reader doesn’t care about your characters, (...) then no amount of ... plot trickery will keep them turning the pages." (Wieder InfinityPlus) Nun, der Mann hat nicht mit dem Typus des Buchrezensenten gerechnet, der entschlossen ist, `dran zu bleiben’. Zwar sind die Handlungen von Browns Charakteren durchweg realistisch und glaubhaft, sie werden dadurch aber nicht gleich auch interessant. Ralph Mirren ist ein sich vom Leben abschottender Drogensüchtiger im Stadium des permanenten Entzugs. Das versteht der Leser nach zwanzig Seiten - und mehr erfährt er auch nicht. Ella Fernandez ist einsam aufgewachsen, weil der Vater, nach dem Tod seiner geliebten Gattin bei Ellas Geburt, seine Tochter unbewusst für diesen Schicksalsschlag verantwortlich machte. Solch ein Verhalten ist an sich durchaus glaubhaft, wirkt in dem Buch aber nur wie ein Versatzstück aus dem Repertoire der Populär-Psychologie, wie man es als moderner Medienkonsument ständig geboten bekommt.
Bleiben noch die "plot trickery" sowie die Länge des Werkes: Natürlich akzeptiert man als Leser eines Science-Fiction-Romans oft technische Erfindungen, die einem unwahrscheinlich vorkommen. Wenn man nicht für die Dauer der Lektüre an die Existenz eines Nada-Kontinuums sowie der KV-Interfaces glauben mag, kann man sich gleich ein anderes Buch suchen. Aber auch nach diesem `Glaubenssprung’ bietet Brown leider mehrere inhaltliche Heuler, die jedem sorgfältigen Leser auffallen müssen:
- Wenn die Interfaces zwangsläufig die Ökologie gefährden, warum stehen sie dann im Freien und nicht in einem abgeschlossenen Bauwerk? (Brown wollte natürlich weder auf seinen exotischen Hauptschauplatz Paris verzichten noch auf ein erleuchtetes Sternentor bei Nacht noch auf den Anzugspunkt für Selbstmörder.)
- Soll ich wirklich daran glauben, dass in einer Touristenstadt ausgerechnet die Kathedrale von Notre-Dame zu einem abgelegenen Ort wird, den eine private Gruppe zu ihrem Hauptquartier machen kann?
- Und, last but not least, [Vorsicht, Spoiler!] lassen sich Wirtschaftsführer und Politiker wirklich sämtlich durch einen Aufenthalt im Nada-Kontinuum dazu bringen, auf große Teile ihrer Macht zu verzichten?
Ich habe Eric Browns ersten Roman gern gelesen und mich beim zweiten sehr gelangweilt. Das kann damit zu tun haben, dass ich dazu neige, Bücher, die sich höhere Ziele setzen, kritischer zu beurteilen. Allerdings hatte Tage auf Meridian für mich auch den einen Vorteil, dass das Buch nur halb so lang war wie sein Nachfolger. Das Nada-Kontinuum füllt Seiten mit Beschreibungen unwichtiger Örtlichkeiten und nebensächlicher Ereignisse. Außerdem bietet das Buch mehrfach die Art von Ballerszenen, bei denen ich schnell zu blättern anfange. Und noch ein Letztes: Ich mag schon nicht, wenn ein Protagonist einmal dem Tod im letzten Moment von der Schippe springt - mehrere Male finde ich wirklich nervig.