Serie/Zyklus: ~ Besprechung / Rezension von Jürgen Veith |
William Gibson ist wohl der Urvater des Cyberpunk. Vielfach kopiert ist er jedoch für viele Fans immer noch nicht nur der Pionier, sondern auch der Großmeister dieses Genres. Für mich wurde dieses Genre leider 10-15 Jahre zu früh geboren. Als Gibson in den 80ern mit seinen Werken populär wurde, hatte ich Vorbehalte gegenüber diesem neuen Stil. Als ich endlich dazu bereit war, mich darauf einzulassen, war die Zeit wohl schon vorbei. Für jeden Zeitgeist gibt es die passende Droge. Ich glaube nicht, dass seine alten Werke mir heute noch gefallen würden, weniger wegen des Stils als wegen des Themas. „Cyber“ ist inzwischen kein bahnbrechendes Aufbruchthema mehr, weder in Film, Literatur noch in Forschung und Entwicklung.
Vielleicht sind auch dies wieder unberechtigte Vorurteile, die mir allerdings von dem ein oder anderen Gibson- Fan bestätigt wurden. Bei mir führte das dazu, dass ich immer noch ein Gibson-Rookie bin. Da kam mir sein aktuelles Werk „Mustererkennung“ gerade recht, um endlich meine Bildungslücke zu schließen und mir ein eigenes Urteil über Gibsons Schreibkünste zu bilden. Die Kritiken, die ich zuvor gelesen hatte, waren recht kontrovers, insbesondere zog sich eine gewisse Enttäuschung bei seinen beinharten Fans durch, die wohl eine Story im Stil von „Neuromancer“ erwartet hätten. Ehe diese mir jetzt predigen, mit dem falschem Werk angefangen zu haben: Ich sehe es als Vorteil an, gänzlich ohne Vorbelastung und Erwartungshaltung ans Werk gegangen zu sein.
Cayce Pollard ist ein Design- Spürhund, ein „Coolhunter“, ein Wünschelrutengänger in der Welt des globalen Marketings. Sie versteht es, die ersten Anzeichen und Signale eines neuen Trends zu erkennen. Was war der allererste Auslöser für verkehrt herum getragene Baseball-Kappen oder Unterhosen, die aus der Hose schauen? Gibt es neue Trends, die die Modewelt aufgreifen kann? Mit ihrem instinktiven Gespür ist Cayce extrem sensibel in der Beurteilung von Designtrends. Damit ist sie eine Top Expertin für alle Branchen, die mit Mode, Werbung und Lifestyle Kapital machen.
In ihrer Freizeit beschäftigt sie sich intensiv mit einem Phänomen, das im Internet kursiert. Kurze Videoclips mit gewaltiger künstlerischer Anziehungskraft, die in unregelmäßigen Abständen von einer unbekannten Quelle veröffentlicht werden beschäftigen unzählige Foren und haben sich zu einem Kult entwickelt. In den Augen von Cayces Chef, dem erfolgreichen Unternehmer Bigend, ist dies die beste weltweite Marketingkampagne aller Zeiten. Cayce ist einer der Aktivposten im wichtigsten Clip-Forum F:F:F (Fetish:Footage:Forum). Hier werden die wildesten Spekulationen über die Herkunft der Clips diskutiert. Als ihr Chef sie beauftragt, sich auf die Suche nach dem geheimnisvollen Erschaffer der Clips zu begeben, beginnen Beruf und Privatleben für Cayce zu verschmelzen.
Mustererkennung ist in der Gegenwartsform geschrieben, wodurch es irgendwie modern und flott umgesetzt wirkt. Unvollständige Sätze, bei denen schon mal das Subjekt fehlen darf, vermitteln einen treibenden Eindruck. Das englische Original war sicherlich nicht ganz einfach zu übersetzen: so wurden gleich 2 Profis an diese Aufgabe gesetzt. Selten genug, dass neben dem Autor auch die Übersetzer im Umschlag gewürdigt werden. Aus meiner Sicht haben sie ihre Sache gut gemacht und es geschafft, die faszinierende kühle Atmosphäre einer Welt aus Technologie und Isolation ins Deutsche zu übertragen. Streng genommen ist „Mustererkennung“ eher ein Thriller als ein SF Buch, spielt jedoch gekonnt mit aktuellen Technologien und einer SF-Aura, sodass irgendwie das Gefühl zurückbleibt, dass hier eher die Welt von morgen als die von heute dargestellt wird.
Gibson ist ein ausgezeichneter Beobachter. Auf geradezu verblüffende Art und Weise, gelingt es ihm, uns eigentlich bekannte Dinge mit den Augen eines fremden Beobachters zu sehen. Eigenheiten unserer Welt, die wir unbemerkt und als selbstverständlich wahrnehmen, werden aufgezeigt. Was ist es, das das Flair einer Stadt ausmacht? Welches sind die Attribute, die dazu führen, dass sich eine Stadt genau so und nicht anders anfühlt? Die ersten 100 Seiten gaben mir das Gefühl, ein erfrischend anderes und eigenständiges Buch zu lesen.
Dieser gute erste Eindruck kippte jedoch immer mehr, je weiter ich im Buch fortschritt. Zunächst fällt eine schier unheimlich Häufung von Zufällen auf: Irgendwie scheinen alle alten und neuen Bekanntschaften Cayces in den Fall verstrickt zu sein. Da entpuppt sich eine Zufallsbekanntschaft als der Schlüssel zur Lösung. Wie diese Zufallsbekanntschaft an eben diesen Schlüssel geraten ist, wird offen gelassen. Die ganze Handlung wirkt sehr konstruiert und unglaubwürdig. Neben dem Haupterzählstrang werden ausführlich weitere Themen aufgegriffen (z.B. die Beziehung Cayces zu ihrem Vater, Ausgrabungen in Russland etc.), die irgendwie nicht richtig zusammengeführt werden. Nein, Herr Gibson, da haben Sie es sich ein wenig zu einfach gemacht. Eine hanebüchene Story, willkürlich zusammengeschusterte „Under-Construction-Handlungen“, entscheidende Wendungen durch Zufallsprinzip und eine wirklich dünne Auflösung. Das kann ich nicht empfehlen. Auch ein etablierter Künstler sollte ein paar Grundsätze beachten.
Nun gut, sicherlich kann Gibson schreiben. Nur so ist es zu erklären, dass ich das Buch bis zum Ende gelesen habe. Es ist trotzdem einfach schade, dass zuwenig aus einer guten Idee und der interessanten Schreibtechnik gemacht wurde. Die Kür wurde bestanden, die Pflicht vergeigt!
Bewertung: 6 von 10 Punkte
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