Hugo Awards 2008 - die nominierten Novellen Teil 5: Originaltitel: Memorare Autor: Gene Wolfe Erstveröffentlichung: Novelle, April 2007 in Fantasy & Science Fiction; 27976 Wörter Eine Besprechung / Rezension von Rainer Skupsch |
[Warnung: In dieser Rezension verrate ich fast den gesamten Inhalt der Geschichte.]
March Wildspring ist ein Dokumentarfilmer, der schon bessere Tage gesehen hat. Seit ihm seine Ex vor Jahren (rein bildlich) die letzte Hose auszog, herrscht Ebbe in der Kasse. March braucht unbedingt Geld, und das Projekt, das ihm dazu verhelfen soll, ist eine Doku mit dem Titel "Vaults in the Void". Jedes Jahr sterben Menschen im Weltraum. Für einige von ihnen werden Grabstatuen und - auf Asteroiden des äußeren Sonnensystems - Grabgewölbe errichtet. March interessieren vor allem diese Mausoleen. In einigen von diesen erzählen Hologramme aus dem Leben von Verstorbenen, während andere Todesfallen für neugierige Besucher bergen. Da ist dann schon mal die Luft verseucht oder nackte Supermodels entpuppen sich als Kampfandroiden. Und dann gibt es noch das Gewölbe "Number Nineteen", aus dem anscheinend kein Eindringling je zurückkehrt ...
Nach einer Auftaktszene à la Indiana Jones (mit fliegenden gezackten Klingen) ändert sich die Atmosphäre völlig durch den Auftritt von Marchs Freundin Kit Carlsen, die er als Sprecherin für seinen Film engagiert hat. Kit hat eine Freundin im Schlepptau, die sie vor ihrem prügelnden zweiten Ex-Mann beschützen will. Diese Frau heißt Robin Redd, ist rothaarig und erweist sich als Marchs Verflossene. Schon das kommt March sehr ungelegen, will er doch Kit endlich davon überzeugen, dass sie seine große Liebe ist und er ohne sie nicht mehr leben kann. Dummerweise betritt auch noch Jim Redd die Bühne, der entschlossen ist, seine Ex-Frau zurückzugewinnen. Robin flüchtet in "Number Nineteen" und die drei anderen folgen ihr nolens volens in eine Art riesigen Garten Eden mit finsteren Schattenseiten.
Gene Wolfe bietet in seiner Novelle eine Mischung aus Indiana Jones, Beziehungskiste und Allegorie über Schein und Sein. Sein Protagonist ist keine Schönheit, aber ein Abenteurer aus altem Schrot und Korn, dem immer rechtzeitig der passende Satz einfällt. Ständig betont March Wildspring, wie groß seine charakterlichen Defizite seien. Davon sehen wir als Leser aber nichts. March ist vielmehr unheimlich verständnisvoll und seiner Traumfrau Kit ganz ergeben. Ein toller Typ!
Ach ja, Kit! Die üppig gebaute Fernsehmoderatorin stammt direkt aus den Centerfolds aller bekannten Männermagazine. Ihr Outfit in diesem Text besteht aus rosa Dessous und einem Raumanzug so durchsichtig wie Cellophan. Ihre Sprache bewegt sich oft auf ähnlichem Niveau. Eine kleine Kostprobe:
"[Stop] worrying what I’m going to have on under the suit. I am going to wear a bra. Guaranteed. Haven’t you seen what zero-g does with boobs the size of mine? I have. They go all over, and believe me it’s not a pretty sight. So I’ve got this wonderful little pink bra. You’re gonna love it! The saleswoman got out a needle and pulled the whole, entire thing through the eye."
So redet Kit nicht einmal, sondern ständig. Natürlich ist das völlig übertrieben, und natürlich besteht kein Zweifel daran, dass Wolfe dies bewusst tut. Warum? Dazu später mehr. Erst einmal sei noch erwähnt, dass Marchs mehrfache Heiratsanträge ebenso reines Klischee sind wie das Verhalten von Robin Redd. Sie kreischt gern, wo andere Menschen reden. Anscheinend wird sie vom Autor absichtlich denunziert, damit March besser dasteht. Dass sie zum Opfer häuslicher Gewalt wurde, ist da fast schon die `gerechte’ Strafe dafür, dass sie March einst mit Jim Redd betrog, einem Schläger par excellence.
Ziemlich unappetitlich das Ganze, aber auch einigermaßen spannend erzählt, wenn man es schafft, die offensichtliche Trivialität hinzunehmen. Dann aber betreten die vier Handlungspersonen Number Nineteen, und die Atmosphäre ändert sich erneut. Das Mausoleum erweist sich als eine Art riesiges Holodeck, in dem Menschen scheinbar in einer Art Paradies leben. Als ich diesen Teil las, hatte ich das Gefühl, womöglich gerade eine Menge Anspielungen auf biblische Geschichten u. ä. zu verpassen, weil mir schlicht die Allgemeinbildung fehlt. Ging es hier um die Vertreibung aus dem Paradies? Das Fegefeuer? Den Tag des Jüngsten Gerichts? Oder Orpheus in der Unterwelt? Auf jeden Fall wurde mir die Weisheit auf die Nase gedrückt, dass der äußere Schein nicht alles ist.
Außerdem begannen die Irritationen zuzunehmen. Kaum ist March mal weg, betrügt ihn Kit mit dem Frauenschläger Jim Redd. Und nach Marchs dramatischer Flucht aus dem Grabgewölbe bietet uns der Autor eine geschmacklose Szene, in der sein Held mit einer jungen Mitarbeiterin der Filmfirma um den Preis schachert, zu dem seine Aufnahmen zum Verkauf stehen. Das Mädchen schmeißt sich ihm natürlich gleich an den Hals (er ist nicht völlig abgeneigt, obwohl er erst vor kurzem einer anderen Frau ewige Liebe schwor) und macht ihm auch finanziell ein äußerst großzügiges Angebot. Dann erinnert er sich daran, dass Robin immer noch in Number Nineteen gefangen ist, und erkennt seine Verpflichtung, zurückzukehren und sie zu retten.
Schluss. Aus. Ende einer Geschichte, der mit zunehmender Dauer auch das letzte Bisschen Logik abhanden kam. Oder besser beinahe das Ende, denn jetzt kommt der Knackpunkt, der allerdings geübte Gene-Wolfe-Leser nicht überraschen wird. Mit den letzten 55 Wörtern der Novelle wird uns ein Nachspann geboten, der uns darüber informiert, dass wir soeben das Buch zum Dokumentarfilm von March und Robin Redd Wildspring gelesen haben. Wie soll ich als Leser darauf reagieren? Wolfe-Fans werden jubilieren im Sinne von "Genial! Wieder mal ein unzuverlässiger Erzähler!" Ich für meinen Teil habe noch einmal über den Inhalt nachgedacht und kann mir als Folge dessen nun die diversen Seltsamkeiten erklären. Das löst aber nicht mein Hauptproblem: Die End Credits machen gerade einmal 2 Promille der Novelle aus. Ließe man sie weg, hätte man eine überwiegend spannende, aber auch ziemlich triviale und manchmal widerliche Geschichte. Soll sich all das ändern, nur weil der Autor am Ende sagt: "Ätschibätsch! Reingelegt!"? Wäre dann nicht auch jeder x-beliebige Schundroman große Literatur, der unvermittelt mit dem Satz endet: "Mit einem zufriedenen Seufzer tippte John Updike das Wort `Ende’; ein breites Grinsen stahl sich auf seine Lippen."?