Serie/Zyklus: Hungry City Chronicles, Band 1 Eine Besprechung / Rezension von Rainer Skupsch |
In der Welt von Philip Reeves Jugendroman brach die Zivilisation, wie wir sie kennen, nach dem sogenannten '60-Minuten-Krieg' zusammen. Als Folge davon nahmen die vulkanischen Aktivitäten weltweit beträchtlich zu. Einige Jahrtausende später kamen die Bewohner Londons als erste auf die Idee, ihre Stadt auf Räder zu stellen, um jederzeit mit Haus und Hof in geologisch ruhigere Regionen umziehen zu können. Sie erbauten eine sechshundert Meter hohe Stadt aus Stahl mit sieben Stockwerken, benannten die einzelnen Decks nach alten Stadtteilen, die Aufzüge nach U-Bahn-Linien, und ganz oben auf der Spitze errichteten sie Stein für Stein die alte St. Paul's-Kathedrale.
Weitere tausend Jahre später ist ganz Eurasien zum Jagdrevier für Wanderstädte, -vorstädte und -dörfer geworden. Es regiert der 'Städtische Darwinismus', d.h., größere Orte jagen kleinere, schlachten sie aus auf der ständigen Suche nach Rohstoffen und Treibstoff und versklaven die Bewohner, die noch jung und arbeitsfähig sind. Alte und Kinder werden gleich umgebracht (und ersparen sich so die Fronarbeit in den Maschinensälen und Jauchegruben, Exkremente als einzige Nahrung und ständige Folter). Sagte ich vorhin 'ganz Eurasien'? Es gibt eine Ausnahme: Geschützt hinter den Gebirgszügen des Himalaya hat sich auf dem indischen Subkontinent die Anti-Wander-Liga etabliert. Hier leben Menschen in festen Häusern auf festem Boden. In dem einzigen für Städte befahrbaren Zugang errichteten sie einen gigantischen Schutzwall und schossen im Laufe der Jahrhunderte ungezählte Städte zusammen, die die Aussicht auf reiche Beute nach Indien getrieben hatte.
Wenn die eigentliche Handlung einsetzt, hat London nach Jahren im Verborgenen ihr Versteck auf der britischen Hauptinsel verlassen und durchfährt die verlandete Nordsee in Richtung Südost. Als die Großstadt eine kleine Bergbaugemeinde einfängt, eilt der fünfzehnjährige Historikerlehrling Dritter Klasse Tom Natsworthy zusammen mit dem Leiter der Historikerzunft Thaddäus Valentine und dessen fünfzehnjähriger Tochter Katherine hinunter zum Tiefen Schlund, dem siebten Stockwerk, um dort zu überwachen, ob sich unter der Beute Objekte von archäologischem Wert befinden. Bei dieser Arbeit zückt eine vermummte Person plötzlich ein Messer und versucht Valentine zu erstechen. Tom kann das gerade noch verhindern. Die Gestalt flüchtet. Tom verfolgt sie und treibt sie bei einem Abfallschacht in die Enge. Tom erkennt, dass der Attentäter ein - fünfzehnjähriges - Mädchen ist, dessen Gesicht durch eine riesige Narbe entstellt ist. Das Mädchen trägt Tom auf, Valentine zu fragen, was er Hester Shaw angetan habe, und stürzt sich dann in die Tiefe. Valentine erscheint, lässt sich von Tom berichten, was vorgefallen ist, und stößt den Jungen kurzerhand ebenfalls in den Abgrund.
Als Tom auf dem schlammigen Boden der Nordsee wieder zu sich kommt, sitzt Hester Shaw neben ihm. Tom erfährt, dass ihre Mutter vor sieben Jahren von Valentine ermordet wurde um eines Stücks Alt-Tech willen namens MEDUSA, das die Archäologin bei ihrer Arbeit gefunden hatte. Nach dem Mord streckte Valentine auch Hester, die einzige Zeugin, mit einem Schwerthieb ins Gesicht nieder und ließ sie für tot liegen. Wie sich im Verlauf des Romans herausstellt, ist MEDUSA eine Hochenergiewaffe aus der Zeit des 60-Minuten-Kriegs - mit der Durchschlagskraft einer Atombombe. Tom muss sich entscheiden, wem seine Loyalitäten gehören, während in London Katherine Valentine erkennt, dass ihr vergötterter Vater nicht das ist, wofür sie ihn immer gehalten hat.
"Großstadtjagd" ist ein Jugendroman, den man besser nicht kleineren Kindern vorsetzt. Eine Faustregel besagt, dass man am Alter der Hauptcharaktere eines Kinder- oder Jugendbuches erkennen kann, wie alt sich der Autor seine Leser vorstellt: nämlich zwei Jahre jünger. Damit wäre Reeves Roman für Dreizehnjährige geschrieben, und das scheint mir ganz angemessen. "Großstadtjagd" ist ein grimmiges, düsteres Buch, in dem tausendfach gestorben wird und ein Menschenleben keinen Pfifferling wert ist. Reeve verschont dabei nicht einmal seine wichtigen Charaktere. Ohne zu übertreiben: Wessen Name mindestens drei Mal erwähnt wird, der hat schlechte Chancen, diesen Roman zu überleben.
Auf der stilistischen Ebene ist "Großstadtjagd" ein sehr leicht lesbarer Abenteuerroman, dessen Handlung nach dem Prinzip der ständigen Bewegung funktioniert: Das Buch ist eine einzige Hatz zu Wasser, zu Lande und in der Luft, die schließlich vor dem großen Schutzwall der Liga endet. Dabei hat man als kritischer Leser gelegentlich Probleme mit dem, was im Englischen 'suspension of disbelief' heißt - die Bereitschaft, die beschriebene Welt oder Story für die Zeit der Lektüre als real zu akzeptieren: So wird etwa Tom in einer Szene nur deshalb nicht von einem Pirschjäger ermordet (einer Art Mischung aus Borg und Frankensteins Monster), weil eine plötzlich auftauchende Piratenvorstadt die Kampfmaschine zufällig überfährt. (Hallo? Hätte man die nicht kommen hören?) Oder warum hat in tausend Jahren nie eine Gemeinde auf der Flucht die Taktik entwickelt, Bodentruppen abzusetzen und ihren Verfolgern mit Panzerfäusten das Fahrwerk zu ruinieren? Anschließend hätte man die eigenen Leute ja mit Luftschiffen (so etwas gibt es hier) wieder einsammeln können.
Trotz dieser Einwände ist "Großstadtjagd" aber kein schlechtes Buch. Es zeigt Jugendlichen, dass, wer das Richtige tut, trotzdem nicht als umjubelter Held enden muss; dass die Wissenschaft oft im Dienst wahnsinniger Unmenschen steht; und dass das Recht des Stärkeren zu grauenhaften Gesellschaften führt. London erinnert an das Schaubild einer hierarchischen Pyramide: Ganz unten vergießen die Sklaven ihr Blut für den Luxus, den sich der Bürgermeister und die Reichen ganz oben gönnen. Außerdem ist die Vorstellung einer gigantischen Stadt auf Rädern schon atemberaubend. Ich bin sicher, als Dreizehnjähriger hätte ich den Mund gar nicht wieder zu gekriegt (und auch heute würde ich sofort ins Kino laufen, um mir eine Verfilmung von Hayao Miyazaki anzuschauen).
Ähnlich scheint es vielen jungen Lesern in Großbritannien gegangen zu sein, wo die vier Bände der Hungry-City-Chronicles ihren Autor zu einem reichen Mann gemacht haben. In Deutschland erschien der erste Band 2003 und floppte offenbar; denn bis heute sind die Bände 2-4 ("Predator's Gold" / "Infernal Devices" / "A Darkling Plain") unübersetzt geblieben. Wenn ich mir das biedere Beltz & Gelberg-Titelbild so ankucke, wundert mich das nicht.