Serie: ~ Eine Besprechung / Rezension von Rainer Skupsch |
Was wäre, wenn ... es im 16. Jahrhundert keine Reformation gegeben hätte, weil nacheinander Martin Luther und Thomas Morus zum Papst gewählt wurden?
Nun, vielleicht wäre das Resultat ein Europa, in dem auch über vierhundert Jahre später das Heilige Römische Reich in alter Größe weiterbesteht; abgesehen vom kalten Krieg gegen die Türken Friede herrscht; Wissenschaft - und vor allem die Elektrizität - nach außen verpönt sind; die Gesellschaft die Menschen streng in sehr reich und sehr arm teilt; und alle Kunst der Lobpreisung Gottes dient. In einer solchen Welt trügen dann literarische Bestseller womöglich Titel wie "Der Herr der Kelche" (Tolkien), "Der Wind im Kloster" (Grahame) oder "Pater Bond" (Fleming? Chesterton?).
Als in ebendieser Welt 1976 in der Kathedrale von Coverley (Oxford) die Totenmesse für den kürzlich verstorbenen König Stephen III. von England, Herrscher des Britischen Empire, zelebriert wird, versammeln sich Würdenträger aus vieler Herren Länder, um dem Monarchen das letzte Geleit zu geben. Mindestens zwei von ihnen sind jedoch aus einem anderen Grund gekommen: Fritz Wunderlich und Wolfgang Windgassen sind Gesandte des Papstes. Sie wollen den zwölfjährigen Knabensopran Hubert Anvil hören, der bei diesem Anlass die Solopartien in Mozarts 2. Requiem KV 878 singt. Und die beiden berühmten Sänger wollen dafür sorgen, dass die einzigartige Stimme des Jungen noch für Jahrzehnte erhalten bleibt und dem Hof ihres Heiligen Vaters in Rom weiteren Glanz verleiht. Zu diesem Zwecke sind sie in England. Sie wollen Hubert Anvil zu dem machen, was sie selbst sind: einem Kastraten.
Noch am Abend desselben Tages tragen sie Pater Thynne ihr Ansinnen vor, dem Abt des St-Cäcilien-Klosters, in dem Hubert seine Ausbildung genießt. Widerstand ist hier nicht zu erwarten, denn der Mönch würde niemals dem mächtigsten Mann der westlichen Welt einen Wunsch abschlagen. Schnell wird man sich einig, an Huberts Vater Tobias Anvil heranzutreten, einen reichen Londoner Kaufmann, dessen schriftliche Erlaubnis auch in einer kirchlichen Diktatur nötig ist, um den äußeren Schein zu wahren.
Unerwartet, und womöglich nur aus dem Grunde, den er dem verblüfften Abt nennt, erscheint der Botschafter des ketzerischen, protestantischen Staates Neuengland bei Thynne, Cornelius van den Hag. Er erbittet sich als Musikliebhaber ein Gespräch mit dem musikalischen Wunderkind und lädt Hubert dabei ein, demnächst bei einer Abendgesellschaft für die Gäste des Amerikaners zu singen. Hubert sagt nur zu gerne zu, angesichts der Gelegenheit, an dem Tage auch Hilda, der jugendlichen Tochter des Botschafters, vorgestellt zu werden. Mädchen sind für den Klosterschüler eine terra incognita, die er aber nur zu gern besser kennen lernen würde.
Während Hubert wenige Tage später im Hause der van den Hags erste vorsichtige Beziehungen zum anderen Geschlecht knüpft, unterbreitet der Abt in London Tobias Anvil sein Anliegen. Anvil, der sich schon aus geschäftlichem Pragmatismus mit den Jahren in die Rolle eines religiösen Eiferers hineingesteigert hat, würde sicherlich ohne Zögern seine Unterschrift leisten - wäre da nicht sein Hauskaplan Matthew Lyall. Dieser ist gesetzlich verpflichtet, als Seelsorger Anvils ebenfalls zu unterzeichnen, und obwohl eigentlich selbst ein langgedienter Opportunist in kirchlichen Diensten, verweigert er die Unterschrift und fordert eine Woche Bedenkzeit. In einem seltenen rebellischen Moment ist er einfach angewidert von der offensichtlichen Siegesgewissheit Pater Thynnes. Außerdem befinden sich gerade seine Hormone in beträchtlicher Verwirrung, weil ihm Anvils Ehefrau Margaret nicht aus dem Kopf gehen will. Ob er bei ihr nicht Eindruck machen könnte mit einer mutigen Geste? - Gesagt, getan - bevor Lyalls Herz noch die Zeit findet, ihm vor Angst in die Hose zu rutschen.
Der Abt muss vorerst von dannen ziehen; Hubert hat einen kleinen Aufschub; und Margaret Anvil landet bald darauf in Lyalls Armen und Bett. Das verwirrt den ach so irdischen Kirchenmann noch zusätzlich und lässt ihn später unvernünftige Dinge tun. Aber wie soll Hubert selbst reagieren? Einspruch zu erheben gegen den Wunsch des Papstes käme einem Sakrileg gleich, und will er das überhaupt, wenn doch die Aussicht auf Ruhm lockt und ihm noch gar nicht klar ist, was genau er durch eine Kastration verlieren würde?
Laut seinem Biographen Edward Bradford hörte Kingsley Amis 1973 eine Musikaufnahme des letzten bekannten europäischen Kastraten, Alessandro Moreschi. Anschließend wertete er dessen Gesang dadurch ab, dass er die These aufstellte, bei `wahrer’ Kunst gehe es zuallererst um "the celebration of human sexuality." Tatsächlich drehten sich Amis' Romane - seit seinem Erstling Lucky Jim, der ihn 1953 mit einem Schlag in Großbritannien berühmt machte - immer um das Thema Sexualität und wozu sie die Menschen treibt. Seine Helden sind meist weder gut noch schlecht und oft nicht einmal sonderlich sympathisch. Häufig hetzen und hecheln sie dem anderen Geschlecht hinterher und werden dabei von einem ironischen Erzähler beobachtet. So auch in The Alteration, einem Buch, dessen englischer Titel einmal auf den drohenden chirurgischen Eingriff hinweist, zum anderen aber auch auf den veränderten Lauf der Geschichte. Die ironisch-distanzierte Haltung des Erzählers zieht sich durch den ganzen Roman, gelegentlich (aber viel seltener als in den realistischen Werken des Autors ) aufgelockert durch einen Galgenhumor, der den düsteren Grundton des Plots nie überdeckt.
In Die Verwandlung findet sich mit Kaplan Matthew Lyall ein typischer Amis-Charakter, der - fast - allein die Lektüre des Buches wert ist. Lyall ist alles andere als heilig, eher eine Art Duckmäuser, der seit vierzehn Jahren bemüht ist, sich an den Fallstricken der kirchlichen Hierarchie vorbeizulavieren. Im Alltag immer auf seinen eigenen Vorteil bedacht, verwirrt sich sein Verstand, je öfter er mit Margaret Anvil die Sünde des Fleisches genießt. Lyall sollte eigentlich um die Unklugheit seines Tuns wissen, ist aber hormonell bedingt temporär unzurechnungsfähig und legt sich sogar mit dem Heiligen Officium an, der KGB-ähnlichen Geheimpolizei der katholischen Kirche. Wo sich in Die Verwandlung Humor findet, ist Lyall meist nicht weit. Am besten gefiel mir die dramatische Ironie in der Szene, in der Hubert, Lyall und Margaret Anvil über die Verlockungen des Fleisches reden. Tobias Anvil hatte versucht, seinem Sohn die Kastration damit erstrebenswert erscheinen zu lassen, dass er argumentierte, ohne Sexualdrang bliebe Hubert vor vielen Sünden gefeit. Natürlich verurteilt Lyall sofort Ehebruch u.ä. - obwohl er ihn soeben erst begangen hat und kaum die Hände von seiner Geliebten lassen kann.
Wie gesagt, Szenen wie diese erscheinen mir als `typisch Amis’ - sie machen aber nicht den Kern des Romans aus. Auf den Seiten dieses Buches findet sich zum einen das übliche Beiwerk von Alternativweltromanen. Amis erwähnt gleich dutzendweise historische Persönlichkeiten: von Heinrich Himmler bis Tony Benn, von Thomas Gainsborough bis David Hockney und von Philip K. Dick bis Keith Roberts (aus dessen Buch Pavane der Autor sicher einige Anregungen gezogen hat). All diese Prominenten werden lediglich für kurze Gags benutzt; für die Handlung selbst bleiben sie ohne Bedeutung. Besonders übel spielt Amis dabei John Wyndham mit, der es in dieser Welt nur zum Autor illegaler Porno-Bücher gebracht hat.
Im eigentlichen Zentrum des Buches steht aber eine offen sichtliche Versuchsanordnung, die aufzeigen soll, wie fürchterlich die Konsequenzen sind, wenn man einer Organisation alle Macht überträgt, die glaubt, im Besitz `letzter Wahrheiten’ zu sein. Kingsley Amis schafft eine Ausgangssituation und beleuchtet dann nacheinander alle Personen, die in diese Affäre involviert sind. Als Individuen werden allerdings nur die Charaktere interessant, die im weitesten Sinne an amourösen Verstrickungen beteiligt sind. Die anderen illustrieren lediglich mögliche Standpunkte bzw. Aspekte des Romanthemas.
Nehmen wir z. B. die zwei Opernsänger: Fritz Wunderlich geht die Kunst über alles, während Wolfgang Windgassen die Aussicht, einem jungen Menschen einen Teil seines Lebens vorzuenthalten, deprimiert.
Oder das Ehepaar van den Hag: Die Protestanten führen eine harmonische, gleichberechtigte Ehe, nicht so wie die Anvils, wo Margaret praktisch rechtlos ist. (Allerdings hält alle Intellektualität die van den Hags nicht davon ab, in ihrem Apartheidsystem Indianer als Menschen zweiter Klasse zu behandeln.)
Collam Flackerty, ein kirchlicher Beamter, an den sich Lyall hilfesuchend wendet, fungiert allein als Erläuterer politischer Zusammenhänge: dass die Kirche sich die Türken als ewigen Gegner aufbaut, der von inneren Problemen ablenken soll, und dass sie in Glaubensfragen niemals Liberalität zulassen wird, weil sie sonst die Grundlage ihrer Macht verlöre.
Und dann, ganz am Ende, bekommt noch der Papst seinen großen Auftritt: In einem Epilog viele Jahre später porträtiert ihn Amis als skrupellosen Massenmörder, der in der Zwischenzeit das die staatliche Stabilität gefährdende Bevölkerungswachstum dadurch beendet hat, dass er in einem Krieg gegen die Moslems 50 Millionen Menschen abmetzeln ließ und darüber hinaus biologische Kampfstoffe gegen die Einwohner Europas einsetzte. An Amis’ Abneigung gegen alles Klerikale ist nicht zu zweifeln. Angeblich fragte ihn der sowjetische Autor Jewgenij Jewtuschenko einmal, ob er die Existenz Gottes bestreite, und der Brite entgegnete: "It’s more that I hate him."
Weiter oben nannte ich Die Verwandlung das Ergebnis einer Versuchsanordnung. Damit wollte ich darauf hinweisen, dass die Geschichte oft wie auf dem Reißbrett geplant wird. Das macht den Roman besonders in der ersten Hälfte, bevor die Handlung etwas an Fahrt gewinnt, stellenweise langweilig. Kurz nachdem klar geworden ist, welches Schicksal die Erwachsenen für Hubert im Auge haben, wandert der Junge z. B. einmal fünf Seiten durch Wald und Flur, nur damit er am Ende heimlich einem kopulierenden Pärchen zuschauen kann. Als Leser denkt man da: Aha, seine Sexualität ist bedroht, also muss er sie schnellstmöglich kennen lernen. Einen anderen Existenzgrund gibt es für diese Seiten nämlich nicht. Und nachdem er die gröberen Seiten des Geschlechtstriebs gesehen hat, wird Hubert gleich noch zu den van den Hags geschickt, um den Umgang mit einem gleichaltrigen Mädchen zu erleben.
Mein Gesamteindruck von Die Verwandlung ist also gespalten. Ich mag im Prinzip Romane, die die Welt als einen Jahrmarkt der Eitelkeiten darstellen, in dem Menschen auf manchmal komische Weise herumirren und immer wieder eine Menge einstecken müssen. Amis selbst hat solche Bücher geschrieben. Neben dem berühmten Lucky Jim möchte ich an dieser Stelle noch die wunderbare Horror-Tragikomödie Der grüne Mann erwähnen. Die Verwandlung dagegen scheitert leider an dieser Messlatte, weil neben einigen zwischenmenschlichen Verwicklungen und einem furchterregend beschriebenen Terrorsystem auf allzu vielen Seiten der schöpferische Leerlauf vorherrscht.
Themenbereich "Parallelwelten"
- Buch- und Film-Rezensionen -