Reihe: Visionen (Band 4) Eine Besprechung / Rezension von Rupert Schwarz |
Obwohl die nunmehr vierte Ausgabe der Visionen aus dem Shayol Verlag die mit Abstand umfangreichste ist, beginnt der Band doch mit einer schlechten Nachricht: Redakteur Helmuth W. Mommers gibt bekannt, dass dies die letzte Ausgabe seiner Visionen ist. Trotz der vielen Auszeichnungen, die die Reihe erhalten hatte, blieb die Leserschaft eher gering, und so zog man die Konsequenzen daraus und beendete dieses ambitionierte Projekt.
Doch trotz der Katerstimmung beschloss man - und das ist positiv anzumerken - das Ganze mit einem finalen Feuerwerk der Ideen abzuschließen. Doch nun zu den Geschichten:
Thorsten Küper - Modus Dei
Dies ist eine Cyberpunk-Geschichte im klassischen Stil. Auch wenn das Szenario keine neuen Ideen bringt, ist die Geschichte doch recht spannend zu lesen. Das Setting, der Protagonist, der Spannungsbogen, der Stil und der Twist am Ende der Geschichte: Alles hat gepasst, und die Story stellt einen vielversprechenden Beginn der Anthologie dar.
Christian von Aster - Infogeddon
Ein Mann steigt aus einer Welt aus, in der die Nachrichten von Marketingkonzernen gemacht werden. Die Geschichte ist auf ihre bittere Art richtig gut gelungen und erinnert ein wenig an die Weltenentwürfe von Huxley und Orwell.
Desirée und Frank Hoese - Hyperbreed
Ein wissenschaftliches Experiment schlug fehl. Forscher, die nach einem für Menschen tödlichen Hypersprung genetisch rekonstruiert werden, finden sich im Nirgendwo wieder und haben keine Anhaltspunkte, wo sie sich befinden. Das durchaus interessante Szenario wird von den Autoren sehr dicht erzählt. Vielleicht hätten sie nicht so sehr mit Erklärungen geizen sollen.
Markus Hammerschmitt - Die Lokomotive
Die erste Novelle dieser Anthologie. Ein Mann, der sich in einem kommunistisch geprägten Zukunftsstaat als Ingenieur einen Posten erarbeitet hat, bekommt einen unmöglichen Auftrag: Er soll eine Dampflokomotive bauen. Doch das Wiederentdecken der uralten Technik fordert ihm alles ab, und es kommt zur erwarteten Katastrophe. Die Geschichte wirkt ein wenig altmodisch, weil sie wie eine Kritik an der Sowjetunion oder der DDR wirkt. Dennoch ist die Geschichte routiniert und spannend erzählt.
Uwe Post - eDead.com
Eine interessante Geschichte um Menschen, die sich in einer virtuellen Welt "digitalisieren" lassen, ohne sich aber vorher die beauftragte Firma genauer angesehen zu haben. Ein schwerer Fehler. Diese Geschichte ist mit eines der Highlights dieser Anthologie.
Thor Kunkel - Aphromorte
Zwei Männer fahren durch eine zerfallene Welt. Ein Virus hat alle Menschen ihrer Zurückhaltung beim Geschlechtsverkehr beraubt, und so verendet die Menschheit langsam ausgemergelt, aber glücklich. Nicht uninteressant, war aber für meinen Geschmack zu negativ.
Michael K. Iwoleit - Der Moloch
Die Titelgeschichte ist zugleich die umfangreichste der Anthologie. Der Kurzroman erzählt von der zersiedelten Gegend des Gebiets Köln bis zum Ruhrpott, das zu einem einzigen, gewaltigen Siedlungsgebiet gewachsen ist. Ein heruntergekommener Journalist versucht die rätselhaften Ereignisse in diesem Gebiet zu ergründen und stößt auf eine erschreckende Wahrheit. Die Geschichte ist handwerklich gut, aber inhaltlich bietet sie wenig Neues.
Niklas Peinecke - Imago
Alle Menschen verbergen sich hinter einer perfekten Projektion. Das wahre Aussehen mit all seinen kleinen Fehlern ist kaum noch ertragbar. Eine sehr interessante Kurzgeschichte, deren Ende ein wenig enttäuschte.
Sascha Dickel - Bio-Nostalgie
Die Menschheit ist in einen Supercomputer aufgegangen, und für jedes Individuum gibt es nun keine Grenzen mehr. Doch einige Menschen sehnen sich nach körperlicher Existenz. Ein thematisch ähnliches Thema wie "Imago", doch dieses Mal mit einem gelungenen Twist am Ende.
Frank W. Haubold - Die Tänzerin
Eine gelungene, melancholische Geschichte über eine russische Primaballerina, deren Besuch in der Heimat in einem Fiasko endet. Allerdings enthält die Geschichte eigentlich keine SF- oder Phantastik-Elemente, und man fragt sich, was sie in dieser Anthologie zu suchen hat.
Bernhard Schneider - Methusalem
Die erlangte Unsterblichkeit bedeutet für einen Mann nicht nur das Ende seiner Ehe, sondern eine ständig steigende Furcht vor dem Tod. Das Geschenkt wird zum Fluch. Eine sehr philosophische Geschichte, die den Leser nachdenklich zurücklässt.
Heidrun Jänchen - Regenbogengrün
Horatio wird Mitglied einer Forschungsgruppe, die versucht, aus einem Verbund von ausgewählten Menschen einen Supercomputer zu machen. Die schreckliche Wahrheit und der Preis für diese kurzzeitigen Fähigkeiten offenbart sich erst spät. Eine bedrückende und doch hoffnungsvolle Geschichte mit sehr intensiven Gefühlen. Die Geschichte ist mit eines der Highlights der Anthologie.
Karl Michael Armer - Prokops Dämon
Die Idee, sich vor dem Tod digitalisieren zu lassen, entpuppt sich als Höllentrip. Man findet sich in einer imperfekten Welt wieder, die nur zu offensichtlich künstlich ist, und darf erleben, wie die Lieben nach und nach von einem wegfallen und das Interesse verlieren. Wieder eine Geschichte, die sich um den Tod und das ewige Leben dreht. Auch wenn sie nicht besonders originell ist, so ist sie doch sehr, sehr gut erzählt.
Fazit: Die Sammlung bietet einige Geschichten, die wirklich herausragend waren und zu den besten Kurzgeschichten des Jahres zählen. Aber auch der Rest der Geschichten ist durchweg lesbar, und es war keine Geschichte dabei, die man als vergeudete Zeit betiteln würde. Zwar hat man so manches in der einen oder anderen Form gelesen, aber die Umsetzung und der Stil waren bei jeder Geschichte über gut bis sehr gut.
Herausgeber Helmuth W. Mommers hat wieder einmal ein sehr gutes Händchen in der Auswahl der Geschichten gehabt (mit Ausnahme von "Die Tänzerin") und dieses Mal ist ihm sogar eine sehr runde Zusammenstellung gelungen, die sich um die Themen Moloch und Visionen dreht. Diese Ausgabe der Visionen ist wohl die beste der Reihe, und dies stimmt einen umso trauriger, da dies wohl auch die letzte sein sein wird.
8 von 10 Punkten