Serie: Anthologie-Reihe "Visionen", Band 4 Eine Besprechung / Rezension von Rainer Skupsch |
Der Moloch und andere Visionen ist der vierte und vorerst letzte Versuch Helmuth W. Mommers’, mit deutschen SF-Erzählungen, in einem Kleinverlag veröffentlicht, ein großes Lesepublikum zu erreichen. Für mich, der ich deutsche Science Fiction in der Vergangenheit fast ausschließlich als Heftroman konsumierte, war dieses Buch eine sehr positive Überraschung. Dass ich nichtsdestoweniger an jeder Story etwas bekrittelt habe, widerspricht dem in meinen Augen nicht: Die Autoren dieses Bandes brauchen sich durchweg nicht vor ihren angelsächsischen Kollegen zu verstecken. Vielleicht noch kurz etwas über meine Lesegewohnheiten: Vor allem bei Kurzprosa richte ich mein Augenmerk besonders auf die sprachliche Umsetzung. Außerdem ist mir bei der Lektüre aufgefallen, dass die Digitalisierung menschlichen Bewusstseins zurzeit schwer en vogue ist. Ich habe in den 80ern die Cyberpunk-Phase ignoriert und wenig eigenes Interesse an dem Themenbereich. Falls sich das allzu deutlich in der Rezension zeigt, tut es mir Leid. Ich habe mich, denke ich, bemüht, `relativ’ fair zu sein.
Thorsten Küper - Modus Dei (S. 9-54): Am Anfang dieser Geschichte schlägt der coole Polizeiermittler - und Ich-Erzähler - Wosniak einem Verdächtigen auf supercoole Manier das Gesicht zu Brei. Falls der Autor dies irgendwie politisch unkorrekt oder gar uncool findet, lässt er es nicht erkennen. Stattdessen darf Polizist Wosniak noch weitere vierzig Seiten lang in atemlosem Präsens eine Schlachtplatte aus Blut, Schweiß, Tränen, Verschwörungstheorien, neuralen Schnittstellen und ein paar Monstrositäten auftischen.
"Modus Dei" ist das gekonnt zubereitete literarische Gegenstück zu Hollywood-Popcorn-Kino. Wenn man so etwas mag, wird man hier perfekt bedient. Ich hätte liebend gern nach zehn Seiten zur nächsten Story weitergeblättert.
Christian von Aster - Infogeddon (S. 55-62): Ein Medienmanipulierer hält einem Medienverweigerer mit vorgehaltener Waffe einen sechs Buchseiten langen Vortrag. Darin skizziert er das beklemmende Bild eines Orwellschen Staates, dessen totalitäre Herrscher mit allen Mitteln ihr Wahrheitsmonopol schützen. Leider ist die Erzählung sprachlich klischeehaft, und die Dialoge dienen überwiegend dem Infodumping. "Infogeddon" scheitert im stilistischen Bereich.
Desirée & Frank Hoese - Hyperbreed (S. 63-84): Als sechs Besatzungsmitglieder des Raumschiffs Eagle ihr Bewusstsein wiedererlangen, wird ihnen schnell klar, dass eine Notsituation eingetreten ist. Aber was für eine? Die Crew hat größte Probleme, an gesicherte Informationen über ihren Status zu gelangen. Die Eagle reiste mittels einer Sprungtechnik, die menschliche Lebewesen nicht hätten überleben können. Deshalb wurden vor dem Start die Bewusstseine aller Beteiligten digitalisiert und in den Schiffsrechner übertragen, während die leeren Körperhüllen auf der Erde zurückblieben. Zwischen den sechs körperlosen Menschen kommt es zu Spannungen über die Frage nach dem weiteren Vorgehen. Schließlich züchtet Professor Söderberg heimlich einen Klon, einen so genannten "Hyperbreed", um mit realen Augen zu sehen, was in der Welt außerhalb des Bordrechners vor sich geht.
Desirée und Frank Hoeses Erzählung gehört inhaltlich zum Anspruchvollsten, was VISIONEN 4 zu bieten hat. Die Geschichte dreht sich um die Fragen "Was ist Leben?" und "Was ist Realität?" Leider ist dieses Thema alles andere als neu und hat mich in dieser Umsetzung nicht interessiert. Man sieht dem Text stets die Sorgfalt seiner Autoren an. Nur ist das Resultat ihrer Bemühungen sprachlich so sperrig und unpoetisch, dass ich die Lektüre als harte Arbeit empfand.
Marcus Hammerschmitt - Die Lokomotive (S. 85-139): Mitte des 21. Jahrhunderts existiert in der Antarktis eine sozialistische Republik, die aus Gründen der Energieversorgung (man sitzt auf enormen Mengen fossiler Brennstoffe und wird vom Ausland geschnitten) beschlossen hat, technisch auf dem Stand von 1900 zu verharren. Eines Tages beauftragt die Regierung den Ingenieur Josefo Reiszman, zum Ruhme der Nation die fortschrittlichste Dampflokomotive aller Zeiten zu konstruieren. Eine große Ehre für Josefo - sowie ein fast unüberwindbares Problem; denn Josefo ist ein Hochstapler, der seine gegenwärtige Arbeitsstelle nur durch Urkundenfälschung erlangen konnte.
In ständig wachsender Furcht vor Entdeckung spielt der 'Ingenieur' mit dem Leben künftiger Fahrgäste und erwägt sogar einen Mord.
Wie häufig ist Marcus Hammerschmitts Prosa sehr kompetent und etwas leblos. Auf nur 55 Seiten will der Autor zeigen, wie die Angst einen Mann fast in den Wahnsinn treibt und seine Beziehungen zu gleich drei Frauen vergiftet. Das gelingt Hammerschmitt nicht wirklich. Als Josefo von seiner Lebensabschnittsgefährtin Pani verlassen wird, schreibt er: "Ich war noch nie trauriger gewesen." Das hätte ich als Leser gern herausgefunden, ohne mit der Nase darauf gestoßen zu werden.
"Die Lokomotive" erzählt trotzdem eine unterhaltsame, spannende Geschichte, bei der man auf den Ausgang neugierig bleibt. Außerdem gefiel mir die Vorstellung einer Industriegesellschaft im ewigen Eis, das zitierte Brecht-Gedicht sowie die Tatsache, dass eine Person nach dem Schriftsteller Italo Svevo benannt war (das macht den Autor gleich noch sympathischer). Den politisch Interessierten in mir hat dagegen der bewusst museale Charakter des Staates Ladania gewurmt: Gegen das (zumindest meine Erinnerung beherrschende) Bild der Rohrpost hatte der Sozialismus von vornherein keine Chance.
Uwe Post - eDead.com (S. 140-7): Ein Mann hat zu tief in die Flasche gekuckt und ist vom Balkon in den Tod gestürzt. Zum Glück (?) hat er vorher noch sein Gehirn auf einen Server geladen, weshalb er zu einem digitalen Leben in der Welt von eDead.com wiederaufersteht. - Dummerweise aber nur als "Toter dritter Klasse", und das bedeutet: no sex, no fun. Und als wäre das noch nicht genug, arbeitet der neue Lover seiner irdischen Freundin Mia bei eDead.com und ist schwer eifersüchtig.
Uwe Post ist hier ein schön skurriler Text gelungen, mit viel Sprachgefühl und Sinn für das richtige Timing. Leider fehlte ihm der Mut zu ausuferndem Aberwitz. Trotzdem: Respekt!
Thor Kunkel - Aphromorte (S. S. 148-63): "Resident Evil" einmal anders: Der versehentlich freigesetzte biologische Kampfstoff "Aphromorte" hat in weiten Gebieten Europas die Zivilisation zusammenbrechen lassen. Jeder, der ihn einatmet, fühlt den unüberwindlichen Drang zu kopulieren, verliert rasch den Verstand und innerhalb von Tagen meist auch das Leben.
Während einer Autofahrt durch die Lüneburger Heide sehen sich zwei Virologen gezwungen, einen Tankstopp einzulegen. Dabei kommen ihnen jede Menge Liebeszombies und ihre eigene Libido in die Quere.
Thor Kunkels Geschichte könnte ob ihres Inhalts leicht zotig wirken - und ganz entgeht sie diesem Schicksal auch nicht, wenn eine Massenorgie von dem Hit "Love is in the Air" untermalt wird. Was mir aber mehr missfallen hat, ist der für viele Horrorstorys typische Tonfall, der sich zu oft mit der zweitbesten sprachlichen Formulierung begnügt. Bei einer Phrase wie "... das Ende von Hamburg ... hatte ... seine Seele zerfressen" [Anm.: meine Hervorhebung] etwa musste ich doch ziemlich schlucken.
Michael K. Iwoleit - Der Moloch (S. 164-241): Michael K. Iwoleit malt das alptraumhafte Gemälde einer gar nicht fernen Zukunft, das dadurch noch schrecklicher wird, dass er lediglich gegenwärtige Tendenzen der Globalisierung, der Klimaerwärmung und des technologischen Fortschritts - pessimistisch - weiterdenkt. Dies ist der längste und anspruchsvollste Text der Anthologie, und ich werde ihm hier `auf die Schnelle’ auch nicht ansatzweise gerecht werden. "Der Moloch" enthält die literarisch gelungensten Passagen des gesamten Buchs ebenso wie exzessiven Infodump, und er zeigt einen generellen Hass auf die Anzugträger des kapitalistischen Establishments (ich hatte den Eindruck, dass in dieser Hinsicht Konsens zwischen Autor und Erzählern bestand).
M.K.I. ist kompromissloser als die meisten seiner Kollegen, bedient kaum das Bedürfnis des Lesers, hier und da bei etwas 'Zuckerwatte’ durchzuatmen. Die Liebesbeziehung zwischen den beiden Protagonisten wirkte auf mich zwar wie eine männliche Wunschfantasie, verweigerte aber gleichzeitig die Befriedigung romantischer Lesererwartungen. "Der Moloch" ist so, wie Literatur `eigentlich’ sein soll: engagiert und ohne Rücksicht aufs Publikum. Dass ich jetzt sicher einige Zeit M.K.I.-Texte meiden werde, spricht mehr gegen mich als gegen die vorliegende Geschichte.
Niklas Peinecke - Imago (S. 242-52): Niklas Peineckes Erzählung ist eine Dystopie, in der die Menschen - wie heute schon in "Second Life"- quasi als Avatare durchs Leben gehen. So wie Utopien Idealvorstellungen beschreiben, um eine Richtschnur fürs eigene Handeln zu erhalten, könnte man sich Dystopien als Worst-Case-Szenario vorstellen, in dem alles unrealistisch schlecht läuft. Solche Szenarien wirken oft allzu homogen und wie auf dem Reißbrett konstruiert, die 'Moral von der Geschicht' etwas platt. Akzeptiert man das und nimmt "Imago" als reines Gedankenspiel, wird man aber gut unterhalten.
Sascha Dickel - Bio-Nostalgie (S. 253-66): ... und nun Teil 4: "Matrix the Plagiarism". Im Jahre 2072 (?) hat die Menschheit längst ihre Körperlichkeit aufgegeben und bevölkert stattdessen die fast grenzenlose Virtual Reality eines Computersystems. Trotzdem haben noch nicht alle 'Menschen' ihre alten Sehnsüchte vergessen. Der ironische Ich-Erzähler z.B. hat sich vor vier Tagen in die Hauptdarstellerin eines Werbespots verliebt. Seitdem schaut er sich das Filmchen non-stop an und plant gleichzeitig, sein Bewusstsein und das seiner Angebeteten vorübergehend in reale Klonkörper zu übertragen, um endlich einmal richtig schmutzigen, unvollkommenen Sex zu erleben. Leider ist dieses Ansinnen ganz und gar illegal, sodass der Erzähler bald jede Menge "Supervisoren" im Nacken hat (in den Teilen 1 bis 3 hießen die noch "Mr Smith" und sahen aus wie der Schauspieler Hugo Weaving).
Die Geschichte ist ausgesprochen lesbar, was dem ironischen Tonfall zu verdanken ist sowie dem tagebuchähnlichen Aufbau: Der Text besteht aus einer Reihe kurzer Einträge, die jeweils wiedergeben, was noch so passiert, während sich der Erzähler zum 4879., 5216., 5733. usw. Male den erwähnten Werbespot anschaut. Unglücklicherweise ist das Was-noch-so-passiert aus den Teilen 1 bis 3 bereits hinreichend bekannt und "Bio-Nostalgie" folglich nicht mehr als eine kurzweilige Fingerübung.
Frank W. Haubold - Die Tänzerin (S. 267-302): Eine gefeierte Primaballerina kehrt nach Jahrzehnten in die kleine russische Stadt ihrer Kindheit zurück. Dort stößt sie auf die Geister ihrer Vergangenheit und die drastische Wirklichkeit eines von Krieg und Diktatur zerrütteten Russlands. Inhaltlich erinnerte mich der Text an Powell/Pressburgers Filmklassiker "Die roten Schuhe", plus einer Prise Melodramatik, ironisch gebrochene Verklärung und etwas Seifenoper. Frank W. Haubold versteht sein Metier. Ähnlich wie "Die Tänzerin" geschriebene Erzählungen gewinnen in Amerika regelmäßig SF-Preise, weil sie eine gekonnte Mischung aus einigen wahren Augenblicken und einer glattpolierten Oberfläche bieten.
Bernhard Schneider - Methusalem (S. 303-12): Dank seiner einzigartigen genetischen Anlagen eröffnet sich einem Mann die Chance, mit nanotechnologischer Hilfe praktisch unendlich zu leben. Dadurch ergeben sich die zu erwartenden Probleme. Leider verläuft die Story sprachlich wie inhaltlich so formelhaft, dass die beteiligten Personen unglaubwürdig blieben und ich mich langweilte. Sorry.
Heidrun Jänchen - Regenbogengrün (S. 313-33): In einem Forschungszentrum werden die Bewusstseine speziell begabter Teenager zu einer Art Think Tank vernetzt, um so profitable Problemlösungen für die Industrie zu finden. Als den Wissenschaftlern menschliche Gefühle die Bilanz zu ruinieren drohen, greifen sie zu extremen Maßnahmen.
Heidrun Jänchen zeigt, dass auch deutsche Autoren auf internationalem Niveau unterhalten können. Schade, dass sie zu einer Schlusspointe greift, die ich als Leser nicht habe kommen sehen und die mir als Auflösung im negativen Sinne als für die Genre-SF 'klassisch' vorkam. Hier wirkte für meinen Geschmack willkürlich die göttliche Hand der Autorin.
Karl Michael Armer - Prokops Dämon (S. 334-44): Noch einmal eine Geschichte über ein digitalisiertes Bewusstsein. Frederic Prokop verbringt sein zweites Leben auf einem Südseestrand, wo alle fünf Minuten dieselbe Wolke vorbeitreibt, alle fünf Minuten derselbe Fisch aus dem Wasser springt. Aus Speicherplatzgründen erwacht er nur, wenn er Besucher aus der Wirklichkeit hat, und die überhäuft er dann mit moralischen Traktaten einerseits bzw. seiner Verzweiflung andererseits. Diese Traktate kennen alle regelmäßigen SF-Leser aus zahlreichen anderen Storys; Prokops völlige Fokussiertheit auf seine Themen dagegen verfehlt auf die Dauer nicht ihre Wirkung auf mich als Leser. Eine schwierig zu beurteilende Story, weil offensichtliches literarisches Talent und gedankliche Schärfe auf allzu bekannte Inhalte treffen.