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Titel: Das Obsidianherz Titel: Die Werwölfe Eine Besprechung / Rezension von Manfred Müller |
Gute Manieren
Über Fabelwesen, Zahlen und wohlerzogene junge Menschen bei Ju Honisch und Christoph Hardebusch
Vor zehn Jahren: Ju Honisch schwitzt über ihrem künftigen Erstlingsroman „Das Obsidianherz“. Sie kniet sich rein, arbeitet sich akribisch durch das ewig lange Manuskript – Details müssen stimmen, die komplexen Abläufe in der Handlung müssen koordiniert werden. Es gibt Leser, die sich auf solche Fehler stürzen und keine Fehler verzeihen. Und bevor es so weit ist, muss erst noch ein Verlag dafür gefunden werden.
2008 wird es endlich wahr: „Das Obsidianherz“ erscheint bei Feder & Schwert, 807 augenmordend klein gesetzte Seiten – besser lesbarer Satz hätte bei der gebotenen Überlänge den Kostenrahmen gesprengt. Musste so viel Länge wirklich sein?
„Hätte ich aus dem dicken Buch einen Zwei- oder Dreiteiler mit schniekem ,Cliffhanger‘ gemacht, wäre vielleicht manches einfacher gewesen. Verlage mögen keine 800-Seiten-Manuskripte.“
Christoph Hardebuschs „Die Werwölfe“ kommt großformatiger daher, schwerer, aber auch mit dickerem Papier und seniorenfreundlichem Satz. Auch bei Heyne sind die Bleistifte spitz, mit denen man rechnet, aber hier ist nach 497 Seiten Schluss. Überdies ist Honischs Roman überschlägig mehr als doppelt so lang: 1,8 Millionen Zeichen gegenüber ungefähr 850.000 bei Hardebusch. Hat sie auch mehr zu erzählen? Eher nicht. Dass „Die Werwölfe“ das Werk eines Routiniers ist, der seine Anfängerfehler schon gemacht hat, merkt man an der Handlung: Es passiert gefühlt ein Vielfaches von dem, was Ju Honisch inszeniert.
Um bei den Rechenspielen zu bleiben: 100.000 Zeichen kosten bei Honisch 94 Cent, für 100.000 Anschläge von Hardebusch muss man € 1,65 zahlen, fast das Doppelte also. In Seiten gerechnet: 2,1 Cent zahle ich bei Honisch für eine Seite, 2,8 Cent hingegen für eine Seite Hardebusch. Ist das der Aufpreis für den Routinier? Ist Hardebuschs Geschichte so viel mehr wert? Schauen wir nach …
1816: Niccolo Viviani, ein junger italienischer Adeliger, soll sich langsam auf den Ernst des Lebens vorbereiten. Eine Europareise scheint angemessen und dann Militärdienst, weil das gut für die Erziehung ist. Niccolo ist nicht einverstanden, aber die Grand Tour tritt er gern an. Auf der ersten Etappe zum Genfer See begleitet er die von ihm heimlich geliebte Valentine, Tochter einer befreundeten Familie, nach Hause.
Als sie dort ankommen, werden bald alle Pläne über den Haufen geworfen: Niccolo lernt einige verfemte Engländer kennen, darunter den legendären Lord Byron und seinen guten Freund Percy Shelley. Bald erfährt Niccolo ihr Geheimnis und sie versprechen, ihn in die Gemeinschaft der Werwölfe aufzunehmen. Die wiederum sind nicht gut gelitten: Gut katholische Jäger haben ihre Witterung aufgenommen und die Jagd beginnt ...
Kurz gesagt: ein Roman ohne echte Fehler. Vergessen wir mal, dass im Prolog die Schreie eines Opfers nachhallen, dessen Kehle gerade in den Fängen eines Wolfes verschwunden ist, doch abgesehen davon wird hier gutes Handwerk abgeliefert. Tonfall und Standpunkt sind der jeweiligen Erzählperspektive entsprechend gestaltet, die historischen Details muten korrekt an, es gibt überraschende Wendungen, ansprechende Kontraste durch Schauplatzwechsel, Hardebusch lässt auch schon mal allzu naheliegende Optionen fallen – nichts stört den Lesefluss und es gibt die nötigen Zutaten für ein modisches Horrorspektakel: Werwölfe, Vampire, Magie, Inquisition. 14 Euro, zwei Tage Spaß.
Trotzdem bin ich nicht zufrieden. Dass jeder Buchstabe bei Hardebusch doppelt kostet, mag dem guten Lektorat zu danken sein – das ist teuer, aber was ist das Ergebnis? Ein kalkulierbares Produkt ohne Ecken und Kanten. Und ein überflüssiges zudem, das andere lange vorher schon viel besser präsentiert haben.
1991 erschien in Deutschland Tim Powers’ „Die kalte Braut“ (orig. „The Stress Of Her Regard“, 1989), eine Geschichte, die ebenfalls den Genfer See des Jahres 1816 und Byrons berühmte Hausgemeinschaft mit Shelley, dessen späterer Frau Mary (die dort den „Frankenstein“ schrieb) und anderen bekannten Figuren berührt. Ein junger englischer Arzt hat die Bekanntschaft eines mythischen Wesens, einer Lamia, gemacht, mit der er unglücklicherweise verheiratet ist – dank eines betrunkenen Scherzes. Und weil die Lamia deswegen Crawfords frischgebackene Ehefrau zerreißt und ihn alle nun des Mordes verdächtigen, befindet er sich auf der Flucht, in deren Verlauf sich eine pittoreske und abwechslungsreiche Geschichte um vampirische Geister, mythologische Kreaturen und uralte Geheimbünde entfaltet, angereichert mit englischer Literaturgeschichte. Ein einzigartiges Lesevergnügen! Verglichen damit mutet „Die Werwölfe“ an wie ein Faschingskostüm neben einem Ballkleid – hübsch bunt, aber mit nur wenigen Schichten.
Ju Honisch steigt ein paar Jahrzehnte später ein, 1865, Schauplatz: das königlich-bayerische München, genauer: das Nymphenburger Hotel, das wir recht bald betreten und bis kurz vor Schluss nicht mehr verlassen. Jemand hat ein magisches Manuskript von unvorstellbarer Macht gestohlen, das in den falschen Händen das Ende der Welt bedeuten könnte. In besagtem Hotel nun treffen alle Figuren aufeinander, die eine wichtige Rolle spielen, und einige andere, die oft schon früh sterben oder fliehen.
Da gibt es einen Ermittler der englischen Krone namens Delacroix – ein kampferfahrener Haudegen, groß, stark, intelligent, etwas barsch mit den Frauen. Ihm zur Seite stehen zwei bayerische Leutnants von niederem Adel, die uns bald mit übertriebenen Umgangsformen und ständiger Rivalität nerven. Da gibt es einen Pater der „Bruderschaft des Lichts“ samt einigen Helfern, einer davon ein sadistischer Mönch (großartig eindimensionale und beängstigende Figur, erinnert an so manchen tödlichen Bösewicht aus James-Bond-Filmen!). Wir treffen auf einen geheimnisvollen ungarischen Grafen mit seltsamen Fähigkeiten, auf Magier (tote und lebendige) und auf Corrisande, die eigentlich nur einen gut situierten Ehemann sucht, in Begleitung ihrer Anstandsdame, die eine Vergangenheit hat. Und dann ist da noch der Böse, ein Schattenwesen, das ebenfalls auf der Suche ist: nach Macht, Rache, dem Manuskript ... und einer Frau.
Nun gilt es also, den Bösen zu fangen – in einer Schachtel aus Kalteisen (richtig, magische Wesen mögen das nicht) – und die Guten zu beschützen. Praktischerweise können die magischen Wesen das Hotel nicht verlassen, weil die Magier das verhindern, die Leser aber auch nicht, denn die Geschichte wechselt den Schauplatz erst mal nicht, so dass wir einem mörderischen Kammerspiel beiwohnen, von Kapitelchen zu Kapitelchen, von einem Cliffhanger zum nächsten.
Die Zahlen ... Ein aufwendigeres, hartes Lektorat hätte hier sicher viel Gutes bewirkt. Anfangs wirkt die ältliche Sprache noch unbeholfen, es gibt Ungenauigkeiten, wie den unnötigen Tempuswechsel in Kapitel 38, es gibt ungeheuer viel Redundanz, Dinge werden erklärt, wo die Handlung sie erklären könnte, Abläufe werden aus verschiedenen Blickwinkeln erzählt, ohne dass substantiell etwas hinzugefügt würde, es gibt schiefe Bilder (Trauben sind erlesen, nicht Fahrgäste, oder wenn vom Angelpunkt aus fragend weitergebohrt wird ...). Dazu vertane Chancen: interessante Schauplätze, die nicht oder zu spät besucht werden, viel versprechende Figuren wie Corrisandes geheimnisvoller Vater, der zwar in der Kulisse aufgebaut, aber niemals in die Handlung eingeführt wird. Eine riesige Baustelle!
Aber was für eine! Die Atmosphäre ist dicht, die Bilder detailliert und bunt, die überbordend genauen Beschreibungen (im Dialog oft überflüssig und gelegentlich wuchernd, wo Sparsamkeit besser gewesen wäre) mehrheitlich plastisch und sehr sinnlich. Die Figuren kommen uns quälend nah, manche nerven uns fast körperlich, aber sie sind alle in Bewegung, was die detailversessene Handlung sehr komplex macht. Andere sind klischeehaft, bis man fast das Parfum vergangener Epochen riecht, und der Vampir …
Diese Betrachtung streift drei Arten Vampire: Powers’ mythologische Kreatur, die mit Stokers Dracula wenig gemein hat, Hardebuschs Ludovico, einen fast klassischen Vampir, der mir eine Spur zu edel ist, dem man aber abnimmt, wie er sich durch die Zeiten quält und, ja, auch, wie sehr er sich nach Liebe sehnt, und Ju Honischs Graf Arpad, eine magische Kreatur, der sie – unterstelle ich mal – gern selbst einmal begegnen würde: stark, gut aussehend, gebildet, talentiert, aber auch tödlich und absolut nichtmenschlich. Misstrauisch werde ich immer dann, wenn die Blutsauger sympathisch sind, denn obschon sich die betörten Opfer danach sehnen mögen, Futter zu sein, Futter sind sie letzten Endes.
Wichtig für beide Geschichten sind Umgangsformen, denn beide handeln vornehmlich in gebildeten und adligen Milieus. Während Christoph Hardebusch sich dahingehend jedoch auf Dialoge und wenige erklärende Sätze beschränkt und die guten Manieren ausreichend illustriert, erhebt Ju Honisch sie zum handlungstragenden Element: Manche Verwicklung und Gefühlswallung kommt erst zustande, weil die Moral und die gute Erziehung es so verlangen. Das erscheint manchmal dick aufgetragen, andererseits ist es konsequent umgesetzt.
Schließlich die dramaturgischen Auflösungen: Hardebusch sucht da Wege knapp am eigentlichen Happyend vorbei, Honisch kann nicht anders: Alle haben zu hart für den guten Ausgang gekämpft – sich das Ende anders zu wünschen, könnte nur einem Mann einfallen.
„Es ist fast zehn Jahre her, dass ich "Das Obsidianherz" geschrieben habe“, sagt Ju. „Ich bin froh, dass ich es so geschrieben habe, wie es ist - nämlich mit sehr viel persönlichem Herzblut. Ob ich es heute noch genauso schreiben könnte, ist eher die Frage, als ob ich es heute noch genauso schreiben würde. Zehn Jahre sind ja doch eine lange Zeit, in der man sich auch verändert. So wie ich heute weniger gesund und weniger glücklich bin als damals, so sind meine Bücher und Geschichten vielleicht auch ein bisschen dunkler geworden. Aber ich stehe zu dem, was ich damals geschrieben habe.“
Ein Jahr lang hat Ju damals an „Obsidianherz“ gearbeitet. Geschrieben hat sie es übrigens zuerst auf Englisch, weil sie davon träumte, auf dem amerikanischen Markt zu reüssieren, ausgerechnet mit einem Debütroman, aber sie lernte schnell, dass selbst eine bekannte Fürsprecherin wie Tanya Huff die Türen nicht automatisch öffnet. Man nehme nichts auf Deutsch, hieß es auch mal – da hatte wohl jemand besonders schnell gelesen.
Die ehemalige Agentin Colleen Lindsay, die heute bei Penguin arbeitet, hätte ihr verraten können, dass man auf dem amerikanischen Markt die Gepflogenheiten in Sachen Wörteranzahl gerade bei Debütanten besonders ernst nimmt. „Das Obsidianherz“ hätte danach 90.000 bis 120.000 Wörter haben dürfen, übertrifft diese Zahl mit geschätzten 300.000 Wörtern jedoch bestimmt um das Doppelte. In ihrem Blog „The Swivet“ resümiert Lindsay:
„Es gibt diesen Mythos – vor allem unter SF- und Fantasy-Autoren –, dass mehr Wörter besser sind. Sie sehen dicke Fantasyschinken in den Regalen und denken, sie müssten besonders umfangreich schreiben, um veröffentlicht zu werden. Manche schreiben nur darum dicke Bücher, weil sie noch keine wirklich guten Autoren sind. Gute Autoren lernen, wie sie ein Manuskript schlanker machen, bis der Wörterspeck verschwunden ist, an dem man so viele Anfänger erkennt. Tatsache ist jedenfalls, dass die ,dicken Schinken‘ in den Regalen in Wahrheit nicht mehr als 120.000 Wörter zählen.“ Da ist dann eben das Papier dicker, wie bei Hardebuschs „Werwölfen“, da stimmen die Zahlen.
Ju aber lässt sich davon nicht beeindrucken. „Das Obsidianherz“ hat mit „Jenseits des Karussells“ eine Fortsetzung erfahren und wenn man gehört hat, wie sie es vor Publikum vorträgt, weiß man, daß hier nicht die Zahlen den Vorrang haben, sondern eine ganz andere Sache: Leidenschaft. Davon hat sie eine Menge ...
http://theswivet.blogspot.com/2008/03/on-word-counts-and-novel-length.html
Das Obsidianherz - die Rezension von Erik Schreiber