Titel: Anathem Eine Besprechung / Rezension von Erik Schreiber |
Der Leser macht einen Ausflug zum Planeten Arbre. Die Welt entspricht in etwa einer Erde, wo die Entwicklung jedoch etwas anders verlief. Die Welt ist vom technischen Stand her unserer Erde ebenbürtig, weil ein paar zivilisatorische Rückschläge für einen ständigen Neuanfang sorgten. Auf Arbre schreibt man das Jahr 3689. Im Konzent Saunt Edhar lebt seit seinem achten Lebensjahr der Wissenschaftsmönch Fraa Erasmas, ein Math, in einer klosterähnlichen Gemeinschaft von Wissenschaftlern, Philosophen und Mathematikern. Die Aufgabe von Raz im Besonderen, wie von der Gemeinschaft im Allgemeinen, ist es, Wissen zu bewahren. Während der unterschiedlichen Zusammenbrüche versuchten die Intellektuellen der Welt das Wissen aus den Bibliotheken und wissenschaftlichen Einrichtungen zu retten. Mit der Zeit entstanden so etwas Ähnliches wie Wehrklöster, in denen sich die Sammler des Wissens verbarrikadierten. Hinter diesen jahrtausendealten Mauern wurde alles Wissen gesammelt, um es vor den schädlichen Einflüssen der Welt zu beschützen. Das Leben im Konzent verläuft nach strengen Regeln und uralten Traditionen. Hier lernen wir noch den Lehrer und Förderer von Raz (so wird Erasmas im Allgemeinen genannt) kennen, Fraa Orolo. Dahingegen ist die Geschichte jenseits dieser abgeschotteten Welt durch Veränderung geprägt: Die Veränderungen durchlaufen den normalen Zyklus von Werden und Vergehen. Auf Blütezeiten folgen Zusammenbrüche. Auf Hochkulturen folgen primitive Gemeinschaften, um sich wieder zu Hochkulturen zu entwickeln. Auf finsteres Mittelalter folgen die Zeitalter der Aufklärung und Erneuerung. Krieg und Frieden wechselt sich ab, genauso wie große Seuchen und Ähnliches.
Raz bereitet sich mit 18 Jahren auf seine erste Woche in der Welt dort draußen, dem Extramuros, vor. Diese Woche wird Apert genannt. Sie darf er als „Zehner“ alle zehn Jahre für zehn Tage durchführen. In dieser Zeitspanne treffen beide Welten aufeinander. Nur in dieser Zeit kann man in Kontakt treten und einen Gedankenaustausch pflegen. Die unterschiedlichen Grade der Abgeschiedenheit der Wissenschaftsmönche erzeugen unterschiedliche soziale Strukturen, die bis zu einer Quasi-Religiosität gehen. Naturgemäß sind die Zehner mit ihren häufigeren Kontakten zum Extramuros wesentlich aufgeschlossener als die Hunderter oder gar die Tausender, die sich in einer weitaus höheren Abgeschiedenheit einkapseln. Die Klammer der unterschiedlichen Kasten ist die gemeinsame Angst vor den sacks genannten Vernichtungsfeldzügen, die immer wieder gegen sie angestrebt werden. Die Zivilisation auf Arbre erreichte mindestens dreimal eine Blütezeit, um dann unterzugehen. Während des Untergangs wurden die wissenschaftlichen Einrichtungen und Bibliotheken geplündert. Nur unter großen Opfern gelang es den Wissenschaftlern und Intellektuellen auf Arbre, zumindest einen Teil des Wissens über die Jahrtausende zu retten.
In der anderen Welt entdeckt Raz, dass fremde Kräfte den Planeten bedrohen. Und mit einem Mal lastet eine hohe Verantwortung auf Raz’ Schultern, denn er wird für die schwierige Aufgabe auserwählt, die Zerstörung des Planeten zu verhindern.
Fraa Erasmas Lehrer Fraa Orolo stellt geheimnisvolle Untersuchungen an und fertigt Aufnahmen im Observatorium an. Vertreter der Inquisition treffen ein. Und Erasmas beginnt seine eigenen Beobachtungen zu machen. Die Bedrohung wird zuerst geheim gehalten, doch als dies nicht mehr möglich ist, werden von den Panjandrums Raz und seine Freunde sowie Vertreter anderer Klöster zur Aufklärung herangezogen. Die astronomischen Observatorien werden auf Anordnung der politischen Kräfte der Extramuros geschlossen. Irgendetwas am Himmel beunruhigt die Menschen, etwas, das die Wissenschaftler nicht sehen sollen.
Anathem ist ist ein Science-Fiction-Roman, der sich vor allem mit unterschiedlichen sozialen Strukturen beschäftigt. Auf der einen Seite sind es die Wissenschaftler in ihrem Elfenbeinturm, Anathem genannt, auf der anderen Seite eine ‚normale’, uns deutlich bekanntere Gesellschaft. Die Wissenschaftler leben hinter Klostermauern in verschiedenen Kasten mit unterschiedlichen Ideologien. Die Kaste der Zehner kann alle zehn Jahre im Verlauf eines Aperts genannten Zeitraum mit der anderen Welt in Kontakt treten, die Kaste der Hunderter nur alle hundert Jahre und die Tausender nur alle tausend Jahre. Die unterschiedlichen Grade der Abgeschiedenheit erzeugen Unterschiede zwischen den Wissenschaftsmönchen, die zu Konflikten untereinander führen.
Neal Stephenson baut seine abgeschlossene Klosterwelt für den Leser überaus glaubhaft auf. Er ist ein begnadeter Erzähler, der die Welt innerhalb der Klöster mit vielen Einzelheiten auffüllt. Er baut die Spannung langsam, fast schleichend auf. Kein Wunder, dass er wieder einmal fast 1.000 Seiten benötigt, um seine Geschichte zu erzählen. Er lässt sich viel Zeit und nimmt sich noch mehr Platz, um eine Geschichte zu erzählen - und dem Leser die von ihm erschaffene Welt so bis in die kleinsten Einzelheiten vorzulegen, wie er sie sich vorstellt. So etwas muss manchmal wortreich beschrieben werden. Im Gegensatz zu anderen Autoren, die zwar auch viele Seiten vollschreiben, bleibt hier zumindest die Neugierde erhalten. Diese Neugierde betraf vor allem seine philosophischen Gedankengänge. Bei Neal Stephenson nehmen die Überlegungen und Diskussionen der beteiligten Wissenschaftler untereinander einen breiten Raum ein. Die philosophischen Gespräche empfand ich nie als langweilig. Als Leser will man wissen, wie es weitergeht. Man will wissen, wie sich die Dispute der einzelnen Fraktionen entwickeln, und man kann durchaus darauf verzichten, in die Welt entlassen zu werden.
Neal Stephenson zählt sicherlich zu den faszinierendsten Autoren, die die Phantastik zu bieten hat. Seine Bücher sind nicht einfach nur Bücher zum Lesen, sie sind Schwergewichte, die mehr als nur eine flüchtige Begegnung erwarten lassen. Gerade neu auf dem Markt ist sein neuer Roman Anathem, erschienen beim Verlag Manhattan. Ich freue mich natürlich sehr, dass mir Neal gestattete, fünf Fragen zu stellen, die er mir beantwortete. An dieser Stelle meinen Dank an Susanne Grünbeck vom Verlag Manhattan für die Vermittlung und Oliver Keth für die Übersetzung.
Erik Schreiber:
Du füllst einige Kapitel mit theoretischen Debatten zwischen den Charaktern. Wurden diese Debatten zwischen Dir und anderen Personen geführt, oder sind sie lediglich erfunden?
Neal Stephenson:
Diese Debatten sind alle komplett fiktiv. Ich mag es einfach, Dialoge zwischen meinen Charakteren zu schreiben. Es wäre ein großer Aufwand, Debatten mit echten Menschen zu führen, und wenn ich es täte, befürchte ich, sagen sie nicht das, was die Charaktere sagen sollen!
Erik Schreiber:
Erasmas ist der Held Deiner Geschichte. Warum trifft Erasmas immer wieder auf die gleichen Personen?
Neal Stephenson:
Ich bin mir nicht sicher, wie ich diese Frage deuten soll. Es gibt Charaktere, mit denen er zu Beginn des Buches interagiert und die er nicht wiedersieht. Andere treten erst später der Geschichte bei. Dann sind da noch die Charaktere, die durch das ganze Buch hinweg präsent sind. Das, mit Sicherheit, ist eine gängige Technik im fiktiven Bereich, und spiegelt nur die Gegebenheiten im realen Leben wieder.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass jeder in der realen Welt bestimmte Freunde oder Familienmitglieder hat, mit denen man immer wieder und wieder zusammentrifft und Kontakt hat.
Erik Schreiber:
Anathem ist eine erdähnliche Welt mit mehr als tausend Jahren geschriebener Geschichte. Ich denke, sie ist gleichsam eine eingefrorene Zeitzone ohne soziale oder technologische Entwicklungen. Eines Tages geht Erasmas aus dieser Welt heraus und wird konfrontiert mit einer Vielzahl neuer Eindrücke. Zuerst dachte ich, er ist überfordert. Ist das nicht zuviel für ihn?
Neal Stephenson:
Er lebte eine bedeutende Zeit lang in der Außenwelt, bevor er in den Konzent gebracht wurde. Er hat somit viele Erinnerungen und Erlebnisse daran und ein fundiertes Wissen darüber, wie alles in dieser Welt funktioniert. Demnach passt er sich sehr schnell an. Später jedoch wird ihm klar, wie sehr er sich gegenüber den Menschen verändert hat, die außerhalb leben. Das bedeutet, für ihn gibt es hier kein Zurück mehr.
Erik Schreiber:
Anathem ist griechisch für ausgeschlossen von einer Kirche oder Religion. Ist es das, was Du meinst?
Neal Stephenson:
Es ist ein Wortspiel zweier englischer Wörter, Anathema bedeutet Ketzerei (wie das griechische Wort, an das Du denkst) und Anthem, die Hymne oder Lobgesang, heilige Musik eben.
Für meine Zwecke ist es interessant und nützlich zugleich. Zwei ähnliche Wörter, die divergieren und doch gleichzeitig eine gewisse Nebenbedeutung mit sich bringen.
Erik Schreiber:
Du benutzt sehr viele Ausdrücke und Begriffe aus anderen Sprachen. Ich denke mynster ist im Deutschen ein Münster, eine große Kirche.
Neal Stephenson:
Ja, Münster hat den gleichen Ursprung wie das englische Wort “Minster“ (wie in Westminster), und so ist das Wort den englisch Sprechenden bekannt. Ich wollte einige neue Vokabeln erschaffen, um die einzigartigen Aspekte dieser Welt hervorzuheben. Daher habe ich mich entschlossen, die Vokabeln darauf aufzubauen, die dem modernen Leser bekannt sind, zu zeigen, woher diese stammen und darauf hinweisen, dass diese eine eigene verwurzelte Geschichte besitzen.
Vielleicht kannst Du Dir auch vorstellen, wenn unsere Welt eine Lebensschicht entwickelt wie „Wissenschaftsmönche, Konzent etc“ und das über Jahrtausende, dann gäbe es auch hier eine eigene Sprache mit Wörtern, die darauf basiert, die wir alltäglich nutzen.
Das ist das Gefühl, das ich versucht habe beim Leser herbeizuschwören.
Erik Schreiber:
Vielen Dank für Deine Antworten. Ich wünsche Dir noch viel Erfolg mit Deinen nächsten Projekten.