Serie/Zyklus: Answered Prayers / Rondua; Band 2 Eine Besprechung / Rezension von Rainer Skupsch |
Es ist nicht leicht, Jonathan Carrolls Werk einzuordnen. Seine Bücher werden abwechselnd als Fantasy, Horror, Science Fiction oder Gegenwartsliteratur vermarktet. Carroll selbst weist das Etikett 'Genre-Autor' weit von sich. Er schätzt an Genre-Literatur zwar einerseits die Erzählfreude, hält die meisten Bücher aber für sprachlich eher schlicht. Carroll glaubt, gute Literatur sei immer eine Kombination von guter Geschichte (die allein den Leser bewegen kann) und einem gewissen sprachlichen Niveau. Außerdem benutze er selbst oft Fabeln oder Mythen, weil "the images are so old that the gods are telling us something." Das soll wohl aussagen, dass hinter Mythen oft uns allen gemeinsame Empfindungen stecken (wen diese Vorstellung genauer interessiert, sollte sich vielleicht näher mit C. G. Jungs Konzept des "Archetypus" beschäftigen). Halt, hören Sie bitte noch nicht auf zu lesen! Ich möchte hier nicht nur mit meinem Zwei-Siebtel-Wissen angeben, sondern auch meine Erwartungshaltung vor der eigentlichen Lektüre beschreiben. Alles, was ich an dieser Stelle über Carrolls literarische Ideen bzw. Arbeitsweise schreibe, fand ich in einem ausführlichen Interview, das ich quasi zur Einstimmung in der Internet-Zeitschrift Raintaxi las. Als ich mich dann an das Buch setzte, erhoffte ich mir eine ganze Menge, vor allem ausgefeilte Symbolik und gut ausgearbeitete Charaktere. Beides fand ich nicht. Vielleicht ist mein Urteil am Ende auch deshalb so negativ.
Bevor ich zum Inhalt komme, ausnahmsweise noch eine ausdrückliche Spoiler-Warnung: Ich vermeide grundsätzlich Klappentexte, aber besonders bei Büchern, bei denen die Art der Auflösung wichtig ist, macht viel Vorwissen oft viel kaputt.
Der Inhalt: Der amerikanische Drehbuchautor und Schauspieler Walker Easterling lebt seit Jahren in Wien. Als er mit seinem besten Freund Nicholas Sylvian zu Filmverhandlungen nach München reist, besteht Nicholas darauf, Walker dort mit seiner großen platonischen Liebe, der 35-jährigen amerikanischen Bildhauerin Maris York, bekannt zu machen. Als Nicholas nach Ende der Verhandlungen telefonisch ein Treffen verabredet, erfährt er, dass Maris seit Monaten von ihrem Ex-Freund Luc verfolgt wird, der sie erst am Morgen wieder auf offener Straße körperlich bedroht hat. Als Walker Maris später kennenlernt, ist er sofort hingerissen. Er fasst sich ein Herz und schlägt ihr vor, mit ihnen nach Wien zurückzufahren. Sie ist einverstanden.
In Wien beginnen Walker und Maris gleich am ersten Tag eine Affäre, die schnell zur ganz großen Liebe wird (falls man dem Ich-Erzähler Walker glauben darf, dem Maris beim Schreiben über die Schulter schaut). Gleichzeitig wird Walker aber durch unerklärliche Erlebnisse beunruhigt: Er kann plötzlich die Ecke eines Fotos aufrecht auf seine Fingerspitze stellen und das Bild dort mühelos in der Schwebe halten; auf der Straße fährt ihn beinahe ein Radfahrer über den Haufen, der wie Rumpelstilzchen aussieht; und eines Nachts hat er einen Traum, in dem eine Frau neben einer goldenen Krippe darüber verzweifelt, wie viele verschiedene Namen es doch gibt.
Schließlich kommt Luc nach Wien und versucht von Nicholas Maris' Adresse zu bekommen. Nicholas hat diese Entwicklung aber vorausgesehen. Er trifft sich mit Luc und stellt ihm Maris' angeblichen neuen Freund vor, einen ehemaligen Boxeuropameister, den Nicholas wie einen Zuhälter ausstaffiert hat. Luc gibt Fersengeld und verschwindet aus dem Roman. Am folgenden Tag wird Nicholas von arabischen Terroristen erschossen, als er am Wiener Flughafen gerade am Schalter der El-Al nach Tel Aviv einchecken will. Nicholas wird eingeäschert, was Walker vorkommt wie ein "Schlaf in den Flammen". Nach der Beerdigung entdeckt Maris auf dem Zentralfriedhof den Grabstein eines gewissen Moritz Benedikt. In den Stein ist ein Bild eingefügt, das Walker zum Verwechseln ähnlich sieht.
Kurz darauf wird Walker für eine Nebenrolle in Hollywood engagiert. In Los Angeles lernt er verschiedene Künstler kennen (die in späteren Romanen von Carroll wieder auftauchen werden), vor allem aber den übersinnlich begabten Mystiker Venasque. Dieser findet heraus, dass Walker schon viele Male gelebt haben muss und enorme magische Kräfte besitzt, von denen er gar nichts weiß. Genau diese Kräfte sind es, die Venasque zum Verhängnis werden: In einem der mittlerweile regelmäßigen Träume, in denen Walker Stationen seiner früheren Leben sieht, entladen sich Walkers Kräfte unkontrolliert und töten Venasque. Andererseits erfährt Walker durch diese Träume aber auch, warum er ständig wiedergeboren wird und dass er ganz schnell lernen muss, seine Magie zu kontrollieren, wenn er nicht sehr bald zum 32. Mal ermordet werden will.
Im Verlauf des Romans macht Walker mehrmals ominöse Anmerkungen, die darauf hinweisen, dass diese Geschichte kein schönes Märchen ist. Und wirklich: Walker gelingt es dank der Kenntnis zahlloser Hollywoodfilme, seinen Verfolger auszuschalten, aber gegen das erbarmungslose Rotkäppchen hat er letztlich keine Chance. Hätte er doch nur auf die Hollywood m o r a l verzichtet!
Jonathan Carroll gehört zu den Autoren, die den Plot ihrer Romane nicht im Voraus entwickeln. Er setzt sich einfach vor ein leeres Blatt Papier, beginnt zu schreiben und überlässt sich seiner Intuition. Im vorliegenden Roman führt das dazu, dass ich lange nicht wusste, wohin die Geschichte mich führen würde. Das hatte durchaus seine Vorteile: Der Plot entwickelte sich ganz wie ein realistischer Roman und erzeugte Spannung hauptsächlich durch die Figur des Luc bzw. mein Vorwissen, dass es bei Carroll früher oder später immer übersinnlich wird. Nach etwa sechzig Textseiten jedoch begann die Geschichte zusehends zu erlahmen, weil die Beschreibung der idealen Liebe schnell langweilig wird. Gleichzeitig war Luc zu sehr ein mieser, kleiner, aktenkundiger Stalker, um für weitere zweihundert Seiten zum Bösewicht zu taugen. Dies wurde wohl auch Carroll klar. Jedenfalls servierte er Luc kurzerhand ab, schaffte Nicholas gleich mit aus dem Weg und begann den Roman noch einmal neu, mit vielen ach so tollen Typen in Hollywood, einem kauzig-komischen Schamanen (Venasque) und einem bei den Brüdern Grimm entlehnten Märchenplot, den ich mir von Terry Pratchett oder Douglas Adams gern hätte gefallen lassen. Bei Carroll wirkte alles nur beliebig und schnell hingeworfen. Und obwohl ich aus Märchen entlehnten Killern durchaus ein gehöriges Gruselpotenzial zubilligen würde, war das Buch einfach eines nicht: spannend.
"Schlaf in den Flammen" war (nach "Voice of Our Shadow" und "Kissing the Beehive") mein dritter Versuch mit Jonathan Carroll. Die ersten zwei Lektüren waren letztlich zwar auch unbefriedigend, hatten aber zumindest ihre interessanten Momente. Carroll hat weltweit seine Fangemeinde. Ich kann nur hoffen, dass "Schlaf in den Flammen" eines seiner schwächsten Bücher ist.
[Noch eine Schlussanmerkung zur Einordnung ins Gesamtwerk: Ich bezeichne weiter oben "Sleeping in Flame" als 2. Band einer Reihe, die außerdem aus den Romanen "Bones of the Moon", "A Child across the Sky", "Outside the Dog Museum", "After Silence", "From the Teeth of Angels" sowie der Novelle "Black Cocktail" besteht. Verbindendes Merkmal dieser Texte scheint zu sein, dass sie einen Teil des Personeninventars gemeinsam haben. Ansonsten sind sie in sich abgeschlossen.]