Titel: Frau am Abgrund der Zeit Eine Besprechung / Rezension von Erik Schreiber |
Connie Ramos ist eine 37-jährige Puertoricanerin, die in den Slums von New York City haust. Hier lebt sie als Angehörige einer Minderheit am Rande der Gesellschaft, die sie sozial degradiert, unterdrückt und ausnutzt. Erst verliert sie ihren Freund, dann ihr Kind und nun Dolly. Als ihre Nichte Dolly, von ihrem Zuhälter Gerald zusammengeschlagen, bei ihr auftaucht, gerät ihr Leben vollends außer Kontrolle. Nicht nur Dolly wird verprügelt, sondern Connie gleich mit. Als sie schließlich erwacht, ist sie in einer Nerveneinstalt eingeliefert worden. Sie wird unter Drogen gehalten und ihrer Freiheit beraubt. Da sie diese Anstalt nicht verlassen kann, flüchtet sie in eine Traumwelt. Sie glaubt, ein Wesen zu treffen, das sich Luciente nennt und angeblich aus dem 22. Jahrhundert kommt. Diese Luciente gibt sich sehr geheimnisvoll und Connie ist sich nicht sicher, ob sie eine Frau ist oder ein sehr weiblicher Mann. Connie stellt fest, dass Luciente in einer Gesellschaft lebt, in der die Menschheit ihre Geschlechter aufgegeben hat. Luciente tauchte bereits früher bei ihr auf, doch ist sie jetzt der einzige Gesprächspartner, den Connie besitzt. Verstoßen von ihrer eigenen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts wird Connie Zeugin, wie es in einer anderen Welt, einer anderen Zeit zugeht. Sie lernt eine für sie auf den ersten Blick unverständliche, utopische Gesellschaft kennen. In deren Mittelpunkt steht die zwischenmenschliche Beziehung, was auf Connies wie eine unrealisierbare Form des Zusammenlebens wirkt. Die (angeblich nur virtuell anwesende) Luciente kann durchaus nur ein Hirngespinst von Connie sein. Connie durchlebt eine Gratwanderung: auf der einen Seite ihr rationaler Verstand, auf der anderen ihr unter Psychopharmaka stehendes Gehirn.
Marge Piercy ist eine der interessantesten Autorinnen des Science-Fiction-Genres. Die heute in Boston und Cape Cod wohnende freie Schriftstellerin war in den 80er Jahren aktiv in der Frauenbewegung engagiert. Dies merkt man in ihren Romanen und vor allem in dieser Erzählung. Marge Piercy hat ein Anliegen an ihre Leserschaft und dieses kommt voll zur Geltung. Mit ihrer räumlichen Distanz zur Gegenwart schafft sie es, eine direkte Konfrontation von jetziger Gesellschaft und utopischer Gesellschaftsform zu vermeiden. Zum Schluss wird jedoch sehr schnell klar, dass beide weniger als ideal sind, sein können.
Marge Piercy schreibt den Roman in der dritten Person. Der Standpunkt ist jedoch der der Hauptfigur Connie. Mit diesem erzählerischen Trick versetzt sich Marge Piercy in die Lage, Erfahrungen einzubauen, die nicht dem Gedächtnis ihrer Heldin entspringen.