Titel: Die Memoiren einer Überlebenden (1979) Eine Besprechung / Rezension von Rainer Skupsch |
Kaum ein Vertreter des literarischen Mainstreams hat so viele Science-Fiction-Romane geschrieben wie Doris Lessing. Galt sie in den sechziger Jahren mit ihrer Romanserie "Kinder der Gewalt" noch als wichtige Vertreterin des psychologischen Realismus und nach "Das goldene Notizbuch" als eine Ikone des Feminismus, so zeigten viele ihrer späteren Romane auch surreale und mystische Tendenzen. Fünf Jahre bevor sie sich mit ihrer Serie "Canopus im Argos: Archive" mit mächtigen Wesenheiten und galaktischen Imperien beschäftigte, dachte sie 1974 in ihrem Roman "Die Memoiren einer Überlebenden" bereits Motive an, die auch in "Archive I: Shikasta" eine Rolle spielen sollten.
In einer nicht allzu fernen Zukunft zerfällt die britische Gesellschaft im Zeitlupentempo. Irgendwo in Mittelengland bewohnt die namenlose Ich-Erzählerin eine Paterrewohnung in einem großen Wohnblock. Ihre Tage verbringt sie mit Schlangestehen nach Lebensmitteln, der Suche nach verlässlichen Informationen über die Lage "im Süden und Osten", wo angeblich bereits das Chaos regiert; vor allem aber beobachtet sie aus der relativen Sicherheit ihrer Wohnung heraus, wie sich auf den Straßen immer wieder - meist junge - Menschen zu "Horden" und "Stämmen" formieren und gen Norden aufbrechen, in der Hoffnung auf bessere Zustände. Eines Tages steht urplötzlich ein Mann in ihrer Wohnung und erklärt sie verantwortlich für das weitere Schicksal der zwölfjährigen Emily Mary Cartwright. Die Erzählerin stellt keine Fragen, sondern nimmt das Mädchen (für das sie bald mutterähnliche Gefühle entwickeln wird) und dessen hässliches Haustier Hugo bei sich auf. Trotzdem bleibt ihre Beziehung zu Emily vordergründig stets freundlich-distanziert. Die Erzählerin beobachtet, wie das Kind in den folgenden zwei Jahren zu einem Teenager heranwächst, zur Geliebten des idealistischen Hordenführers Gerald und Respektsperson des Viertels wird, an gebrochenem Herzen leidet und so viel Lebensklugheit sammelt wie sonst vielleicht eine Frau in zwanzig Jahren.
Parallel zu diesen Ereignissen entdeckt die Erzählerin in ihrer Wohnzimmerwand die Tür zu einer anderen Welt; einer Welt, die zuerst nur aus leeren Zimmerfluchten zu bestehen scheint, in der sie später aber Szenen aus Emilys früher Kindheit so emotional eindringlich miterlebt, als wäre sie selbst dieses ungeliebte Mädchen einer kaputten gutbürgerlichen Ehe ...
Doris Lessings Protagonistin beschreibt sich selbst als "ältere Frau" (S. 51). In der Verfilmung des Romans von 1981 wird sie von der damals 40-jährigen Julie Christie verkörpert. Nach den vagen Hinweisen im Text zu schließen, müsste sie aber mindestens um einige Jahre älter sein. Die Erzählerin ist eine zurückhaltende Frau, die die zerfallende Welt beobachtet und analysiert, aber kaum je selbst handelt. Alles, was in der ersten Romanhälfte detailliert beschrieben wird, geschieht, ohne dass die Frau ihre Wohnung verlässt. Ihre Weltsicht zeugt von beträchtlichen soziologischen und psychologischen Kenntnissen. Ihre Erzählweise ist langsam, genau, meditativ und kommt über weite Strecken ohne Dialoge aus. Als Leser muss man bereit sein, sich darauf einzulassen; andernfalls wird man das Buch rasch beiseite legen.
Die Ursachen des gesellschaftlichen Niedergangs belässt Lessing weitgehend im Dunklen. Die Zivilisation bewegt sich Schritt für Schritt rückwärts. Menschen treiben Tauschhandel, werden wieder zu Nomaden, und gegen Ende breiten sich Mord, Totschlag und Kannibalismus aus. Die atmosphärische Wirkung, die dabei entsteht, ist oft surreal, selten realistisch. Ein Mann steht einfach so mit einem Kind am Arm in einem Raum und verschwindet anschließend, ohne sichtbar das Haus zu verlassen. Ein Haustier (Hugo), von dem sich nicht einmal sicher sagen lässt, ob es Hund oder Katze ist, scheint ebenso intelligent zu sein wie irgendein Mensch. Die Atemluft wird ohne ersichtlichen Grund immer schlechter. All diese Einzelheiten verfremden die Szenerie ähnlich wie in einem Absurden Theaterstück von Samuel Beckett oder Harold Pinter.
Eine Welt geht unter. Diese Situation fördert das Beste und das Schlechteste in den Menschen zutage. Es gibt Brutalität genauso wie Nachbarschaftshilfe. Viele Menschen klammern sich an das Altgewohnte, andere, wie die Erzählerin, betrachten die Welt offenen Auges. Emily ist dabei ihrer Gastmutter sehr ähnlich. Vom Wesen her genauso verschlossen, verfügt sie über ein weites Repertoire sozialer Rollen: Mal gibt sie sich ernsthaft-erwachsen, mal verträumt, mal als junger Vamp und mal als plapperndes Kind. In einer Zeit, in der auch die Beziehungen zwischen den Geschlechtern wieder klareren Rollenmustern folgen, bietet sie sich, wie viele Mädchen ihres Alters, einem Stammesführer an. Mindestens so begabt wie Gerald, ordnet sie ihre eigenen Ambitionen seinen unter. Im Gegensatz zu ihrem Geliebten bewahrt sie sich aber einen realistischen Blick auf die Welt. Gerald ist in den "Memoiren" die Verkörperung allen althergebrachten sozialen Engagements (sowie der männlichen Neigung zur Polygamie). Fast bis zur Selbstaufgabe versucht er streunenden Kindern ein Heim zu schaffen und sie zu sozialisieren. Letztlich rettet ihn nur Emily davor, von seinen Zöglingen ermordet zu werden.
Wirkt schon die Realität oft traumhaft, so trifft das auf die Welt hinter der Wohnzimmerwand erst recht zu. Durchwandert die Erzählerin in ihr anfangs meist leere Räume, so wird sie dort später Zeugin von Ereignissen aus Emilys Vergangenheit und Szenen, die surrealistischen Gemälden entstammen könnten. Für Emilys Mutter ist die kleine Tochter nur ein lästiger Klotz am Bein, und der sexuell frustrierte Vater überträgt zeitweise seine Gelüste auf das eigene Kind. Die kleine Emily fühlt sich schuldig, schon dafür, dass es sie gibt, und auf eine Weise schmutzig, die man nicht abwaschen kann. Als sich die Welt hinter der Wand im Verlauf des Romans für die Erzählerin immer weiter öffnet, sieht sie einmal auf einer unendlich weiten, weißen Ebene Emily in ihrem Bett liegen, während sich ein riesiges, trampelndes Ungeheuer (die Mutter?) ihr immer mehr nähert. Es fällt nicht schwer, sich diese Szene als Gemälde von Salvador Dalà vorzustellen. Die Erzählerin hält diese neue Welt für mehr als ein Traumland. Sie vermutet rückblickend (immerhin schreibt sie hier vordergründig ihre 'Memoiren'), dass sie von einer höheren Kraft geschaffen wurde, macht in dieser Hinsicht aber nie genauere Angaben. Doris Lessing befasst sich seit den sechziger Jahren intensiv mit dem Sufismus. Wenn man einigen Rezensenten folgen will, kann man den gesamten Roman von diesem Ausgangspunkt her interpretieren. Mir erschien bei meiner Lektüre die Welt hinter der Wand wie eine Metapher für einen das Bewusstsein erweiternden Prozess, die Überwindung einer Krise. ("Diese Räume bargen, was ich brauchte ..."; "[Ich wusste], daß die Räume dieser Wohnung viel höher waren als meine ..." - S. 17) Die Vermutung scheint nahe liegend, dass Emily und die Erzählerin im Grunde eine Person sind. Nicht umsonst weiß die Erwachsene stets genau, was das kleine Mädchen fühlt. Am Ende des Romans [VORSICHT! SPOILER!] verwandelt sich die neue Welt in einen Garten Eden, in dem sich die Erzählerin und Emily, Hugo und Gerald, ja selbst Emilys Eltern vor einem gigantischen Ei wiederfinden, das schließlich aufbricht [Symbolik!] und ihnen allen die Aussicht auf eine bessere Welt zeigt.
Falls Sie sich jetzt fragen, welche Krise hier eigentlich überwunden wurde, wenn nicht einmal klar ist, ob der geschilderte Weltuntergang wörtlich zu nehmen ist, so kann ich darauf auch keine überzeugende Antwort geben (Bewältigung der Kindheit? Ein Loblied des stillen Betrachters und Denkers?) Trotzdem hat mir das Buch gut gefallen. Als Liebhaber des Absurden Theaters mochte ich die Atmosphäre des Werks. Mir gefielen die genauen Beobachtungen der Erzählerin ebenso wie die sorgfältige Sprache. Für mich war einfach der Weg das Ziel, und das Ziel war auf Seite 223 nicht zu spät erreicht.