Titel: Die irrlichternde Zeit Eine Besprechung / Rezension von Karsten Kruschel |
Es geht in diesem Buch um Zeitreisen. Aber die Zeitreisen in diesem sehr, sehr russischen Buch haben nichts zu tun mit den putzigen Maschinchen von H.G. Wells und all seinen zahlreichen Nachfahren, ganz zu schweigen von Zeitpolizisten und quasigöttlichen Eingriffen, die das Kontinuum vor Unlogik schützen sollen. Die Zeitreise bei Mamlejew – die im Titel benannte “irrlichternde Zeit” trifft es ziemlich genau – ist ein Unglück, das die Menschen unvorbereitet und unerklärbar trifft, sie ohne erkennbaren Sinn in eine fremde Zeit schleudert und irgendwann auch wieder abholt. Das alles geschieht ohne jegliche technische Erklärung. Es tritt nicht einmal ein Physiker auf, der dem Leser und irgendeiner der handelnden Personen erklärt, was Zeit eigentlich sei.
Das sieht dann so aus, daß der junge Russe Pawel Danilin eines Tages eher zufällig in eine Party bei ihm völlig unbekannten Menschen gerät, auf der wie bei allen typischen russischen Feiern unglaublich viel getrunken wird; daß Pawel dort halbbesoffen ein Kind zeugt und erst später herausfindet, daß er auf einer Party war, die mehrere Jahrzehnte zurückliegt und in der Wohnung seiner längst verstorbenen Eltern stattgefunden hatte. Der damals (wieso damals?) gezeugte Sohn ist inzwischen ein unter verschiedenen Namen auftretender Killer geworden, mit dem Pawel ein paar sehr unangenehme Erfahrungen machen muß. Außerdem tritt auch noch Nikita auf, den es aus irgendeiner sehr fernen Zukunft in unsere Zeit verschlagen hat, die so fremd und unheimlich für ihn ist, daß er sich kaum mit seinen “Mit”menschen verständigen kann.
Eingebettet sind all diese und noch viel mehr rätselhafte Erscheinungen – sogenannte Heuler, echte lebende Leichname, Wahrsagerinnen, in Kellern versammelte finstere Gemeinschaften – in eine Szenerie metaphysischer Zirkel, die gleichsam neben dem wirklich existierenden Rußland liegen. Dieser Untergrund aus Diskutierklubs und okkulten Gurus hält sich nicht damit auf, die staatlichen Verhältnisse oder die Machenschaften der Obrigkeit zu kommentieren, sondern kümmert sich nur um die wirklich wichtigen Dinge. Die unsichtbare Welt beispielsweise, die Geheimnisse des Universums, die Wahrhaftigkeit des menschlichen Denkens, die Möglichkeiten verborgener Dimensionen, und das alles mit vollster Ernsthaftigkeit und einem rhetorischen Aufwand, daß dem Leser die Ohren klingeln. Überflüssig zu erwähnen, daß allerorten der Wodka in Strömen fließt und selbst die Schilderung der nüchternsten Szenen wie durch ein Schnapsglas hindurch gesehen erscheint. Da wollen Geistheiler und Gottsucher uns davon überzeugen, daß es eine unsterbliche Seele gibt und man sich auf höhere Ebenen hinauftransformieren kann, Wahrsagerei macht sich breit und schwarze Katzen schnurren unheilvoll.
Richtig grausig wird es, als die Existenz einer Untergrundbewegung offenbar wird, die sich darum kümmert, alle bedeutenden Menschen beizeiten abzumurksen; all die Genies und Visionäre, die nur Unruhe in die Welt bringen und die Menschen daran hindern könnten, still und zufrieden in einem nicht enden wollenden Wodkarausch vor sich hin zu dämmern. Das ist natürlich auch eine Erklärung für die Schlechtigkeit der Welt: Alle, die etwas verbessern könnten, werden von einer planetenweiten Mordverschwörung der Mittelmäßigkeit umgebracht. Dagegen sehen all die Illuminaten eher pennälerhaft aus. Der Mörder, das Mordwerkzeug der Mamlejewschen Konspiration, wurde mithilfe jener eingangs erwähnten Zeitreise unnatürlich gezeugt; und das hilflos umherirrende Wesen aus der Zukunft mag das Ergebnis einer jahrhundertelangen Zucht aus lauter bedeutungslosen Menschlein sein. Warum aber wird Nikita, der Mensch aus der Zukunft, von rätselhaften Männern abgeholt, die ganz offensichtlich auch nicht in unsere Zeit gehören? Rätsel über Rätsel.
Wenn die Strugazkis beim Verfassen ihrer Romane irgendwelche Drogen genommen hätten, dann wären vermutlich Bücher wie dieses herausgekommen, “Fünf Löffel Elixier” auf LSD sozusagen, ein zugekifftes “Picknick am Wegesrand”. Ein schier nicht enden wollender Mahlstrom aus bescheuerten Theorien, mystischem Firlefanz und völlig sinnloser Gewalt, angetrieben von Wodka und zeitversetzt lebenden Menschen, die mit Zeitreisenden, wie man sie sonst kennt, nicht das geringste gemein haben. Mamlejew hält sich nicht damit auf, den Untergang Rußlands herauszubeschwören. Bei ihm ist dieses Land längst im Untergang angekommen, und alles, was bleibt, ist vorgeblich mystisches, letzten Endes aber sinn- und zielloses Gebrabbel. Das alles ist etwas mühselig zu lesen, interessant bestensfalls als Ausblick in eine Gedankenwelt, der zu entkommen man nach der Lektüre heilfroh ist. Für jemanden, der seine Sammlung von Zeitreise-Romanen vervollständigen will, ist “Die irrlichternde Zeit” eine sehr merkwürdige Ergänzung.