Titel: Die Einkreisung Eine Besprechung / Rezension von Karsten Kruschel |
Wozu sich eigentlich fremde Welten ausdenken, wenn dieser Planet hier schon solche Szenarien bietet? Ob dieses 1896er New York dokumentarisch belegbar ist oder nicht, spielt überhaupt keine Rolle. Es ist eine minutiös gezeichnete fremde Welt, ebenso faszinierend wie vertraut, ganz wie ein von Jack Vance aufwendig konstruierter fremder Planet.
Dieser voluminöse Schmöker handelt von einer rätselhaften Mordserie unter den Strichjungen New Yorks im Jahre 1896 - und eine erhebliche Schwierigkeit bei den Ermittlungen erwächst daraus, daß es den Behörden und der Öffentlichkeit kaum beizubringen ist, sich mit dem Problem überhaupt zu befassen. Zu bigott ist diese feine Gesellschaft, als daß man die Existenz eines Strichermilieus überhaupt zuzugeben bereit ist.
Allerdings hat man mit einem unkonventionellen Polizeichef aus einer der feinsten Familien jemanden, der seine Stadt sauberhalten möchte - und dazu kämpft er nicht nur gegen die Verbrecher in den ausgedehnten Slums, sondern auch und vor allem gegen die in den polizeilichen Amtsstuben. Theodore Roosevelt ist gemeint, späterer USA-Präsident.
In der gottesfürchtigen und hochanständigen Welt dieses New Yorks kann man nicht einmal öffentlich zugeben, daß es Bordelle gibt; und solche mit Bedienung durch minderjährige Knaben sind vollends undenkbar. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf.
Roosevelt installiert ganz im Verborgenen eine Untersuchungsgruppe, die dem Geheimnis des offenbar geistesgestörten Mörders auf neue Weise nahekommen soll: Durch Psychologie. Kreisler, eine schillernde Figur, ist der Psychologe, um den sich die Gruppe schart - aus dem, was der Irre tut, versucht man auf das zu schließen, was er ist, oder auf das, was er nicht ist. Stück für Stück enthüllt sich so die deformierte Persönlichkeit Japheths, verbogen und verstümmelt durch seine persönliche (Leidens-)Geschichte.
Caleb Carr leitet die Irritationen des Mörders ganz konsequent und Stück für Stück von seiner Geschichte ab - und die ist grausig genug. Die bloße Faszination des Bösen weicht langsam dem Horror vor einer Welt, die menschlichen Wesen so etwas antut. Der Mensch ist ein Produkt seiner Umwelt, das ist die grundlegende These, der Carr konsequent folgt. "Einkreisung" ist nicht nur das Verfahren, das Kreisler & Co. zum Täter führt, das Wort meint auch die Situation des Unholds selbst, der von Unfaßbarem eingekreist, sein krudes Heil nur in absurden psychischen Konstruktionen findet - und die kreisen ihn selbst ein. Der Originaltitel "The Alienist" trifft es noch besser, ist aber leider kaum adäquat übersetzbar - Japheth ist in der menschlichen Gesellschaft ein Alien, etwas für die meisten unvorstellbar Fremdes; er wurde durch seine Kindheit "alienisiert", in dieses mordende Scheusal verwandelt; und seine Art, die auf ihre Art auch Aliens darstellenden Knaben abzuschlachten, ist selbst wiederum nur der untaugliche Versuch, dem Dasein als Alien zu entfliehen. Die komplette Erklärung (soweit Carr überhaupt eine solche liefert) ist bei Kreisler nachzulesen.
Insofern handelt das Buch von der Fähigkeit - oder Unfähigkeit - des Menschen, mit dem Fremden, Andersartigen umzugehen. Die Abwehrreaktionen - die bis zu Intrigen und Morden gehen und letztlich auch Roosevelt treffen sollen - sind in ihrem Grundmuster allgemeingültig. Der Horror kommt deswegen den Leser auch nicht an, als man in Japheths Behausung all die eingeweckten Augen findet - das ist nur noch ein Detail, das ein Bild abrundet. Das Gesamtbild dagegen wird mehr und mehr zum eigentlichen Horror - eine Welt, in der jedermann auf der Straße ein Ungeheuer sein kann. Und gelegentlich auch ist.
Der ganz spezielle Wahnsinn des Mörders ist so ein bodenlos gemeines Gespinst, so furchtbar und völlig unwahrscheinlich, daß es vermutlich so einen Fall wirklich gegeben hat. So was denken sich Autoren nicht aus, so etwas Undenkbares liefert nur die Wirklichkeit. Caleb Carr läßt den Leser in der Art von "Das Schweigen der Lämmer" an der Entblätterung der Geheimnisse teilhaben, geht aber in der Tiefe der Darstellung weit über Harris hinaus. Wer Hannibal Lecter mochte, wird Japheth Beecham lieben...