Reihe: ~ Eine Besprechung / Rezension von Erik Schreiber |
Die Welt von morgen ist schon lange nicht mehr die, die sich die Science-Fiction-Schreiber vor Jahrzehnten vorstellten. Dahin sind meist die reinen Abenteuergeschichten. Die heutigen Schriftsteller sind da sehr viel kritischer unserer Jetztzeit gegenüber. 1948 schrieb Eric Blair seinen berühmten Roman 1984 in der Hoffnung, den Menschen aufzuschrecken seiner Fortschrittsgläubigkeit. 1984 wurden die ersten Cyberpunk-Romane veröffentlicht. Die damaligen Autoren griffen das auf, was die Technik hergab, und schufen eine neue Welt ohne Regierungen. Simon Ings geht mit seinem Roman Hotwire noch einen Schritt weiter: Bei ihm gibt es keine menschlichen Entscheidungsträger mehr.
Der künstlichen Intelligenz gehört die Zukunft und Datafat macht es möglich. Mit Hilfe dieser künstlich erzeugten biologischen Substanz werden Teile des weltumspannenden Datennetzes zu selbstständig handelnden Einheiten. Sie sollen Probleme lösen, mit denen die unberechenbare und schwerfällige Intelligenz der Menschen nicht zu Rande kommt. Doch bald schon entziehen sich die schnell wachsenden Künstlichen Intellgenzen - kurz KIs genannt - jeder menschlichen Kontrolle. Der Mensch als Krone der Schöpfung hat sich selbst entthront. Lediglich als Handlanger der verschiedenen KIs ist er noch tätig.
Der alte Mann lebt in einem alten Gutsherrenhaus. Er ist allein zuhause, seine Enkel sind noch nicht wieder zurück. Zwei kubanische Gauner brechen bei ihm ein und wollen ihm das Datafat aus seinem Gehirn stehlen, mit dem er Zugang zu den Künstlichen Intelligenzien hat. Doch was sie finden ist wenig: Nach dem Mondkrieg wurde ihm der größte Teil entfernt. Die Gauner ermoden den Mann, geben sich aber mit ihrer Tat nicht zufrieden. In dem Moment kommt Shama, die Enkelin nach Hause. Einer der beiden vergewaltigt sie und zerlegt sie in Stücke.
Als der Enkel nach kommt, seinen Großvater und seine Schwester findet, schwört er Rache. Außerdem will er seine Schwester wieder zum Leben erwecken. Dazu benötigt er Geld. So geht Ajay Seebaran zur Polizei. Erst macht er Nachtstreife, wird später nach Kuba versetzt. Dort findet er die beiden Kubaner, die seien Großvater töteten und seine Schwester schwer verstümmelten. Leider sind sie tot und die Verstümmelung der beiden befriedigt ihn überhaupt nicht. Er macht weiter, bis er eines Tages direkt der KI in Den Haag untersteht. Er verdient immer mehr Geld, doch seine Schwester lebt noch nicht wieder. Irgendwann wechselt er die Fronten, geht über zu einem Bürgermeister von Rio und gleichzeitig Chef einer mafiaähnlichen Organisation. Und hier geht es erst wirklich los. Er lernt eine junge Frau kennen, die von einer anderen KI gezeugt wurde. Und diese junge Frau verändert sein Leben. Sie, die künstliche Intelligenz, erwartet ein Kind von ihm und sein Beschützerinstinkt bricht durch. Seine Schwester, die eigentlich seit Jahren tot ist, lässt er nun auch in Gedanken sterben, um sein Kind zu schützen. Er will die junge Frau Rosa nicht Herazo ausliefern.
Simon Ings beschreibt Ajay Seebaran als einen jungen, zornigen Mann, der seiner Schwester alles gegönnt hat. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als seine Schwester Shama wieder so wiederzuerwecken, wie er sie in Erinnerung hat. Mit den Jahren wird die Heilung seiner Schwester zu einer fixen Idee. Allmählich verliert er sein Ziel aus den Augen. Vom Gesetzeshüter wird er zum Verbrecher und steht nachher zwischen allen Stühlen. Die zum Teil sehr aufwühlende Geschichte wird von Simon Ings sehr fesselnd erzählt. Ein literarischer Alptraum findet hier seine Manifestation und hält die Leserinnen und Leser fest in seiner Hand. Die Geschichte scheint eigentlich auf den ersten Blick nicht sehr Aufsehen erregend zu sein. Auf den zweiten Blick erkennt man die Kritik, die hinter der Erzählung steht: die Fortschrittsgläubigkeit des Menschen, der Wunsch, mit Technik und mit Dataflux Menschen zu erschaffen und sie so darzustellen, wie sie in den Gedanken anderer existierten. Die Fortschrittsgläubigkeit wird ad absurdum geführt. Ajay lässt letzlich den Gedanken an seine Schwester fallen und befreit sich selbst so von einer großen Bürde. Das Besondere daran ist, dass gerade Rosa, das Kunstwesen, ihn dazu bringt. Ein Kunstwesen, das mit einem Menschen ein Kind zeugt. Mensch und Maschine werden eins. Und das Produkt?
Datafat - die Rezension von Oliver Faulhaber