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Reihe: Heyne Hardcore Eine Besprechung / Rezension von Thomas Backus |
Evil war das erste Buch, das ich jemals von Jack Ketchum gelesen habe – und es hat mich tief beeindruckt.
Ich habe seitdem etliche andere Bücher des Autors gelesen, und ich war immer enttäuscht, und so wollte ich noch mal sicher gehen, dass ich mich bei diesem Buch nicht irgendwie geirrt habe, dass ich es besser in Erinnerung hatte, als es in Wirklichkeit ist.
Das Gegenteil ist der Fall. Evil ist ein böses Buch, aber es ist auf äußerst verstörende Weise genial. Ein junges Mädchen wird von sämtlichen Kindern der Nachbarschaft zu Tode gefoltert.
Ihr fragt Euch jetzt sicherlich, wie man ein solches Buch genial finden kann. Das liegt nicht an der Sprache, die ist gewöhnlich. Es liegt auch nicht an dem 50er Jahre Flair, dem ich schon immer erlegen bin. Es liegt an der Beschreibung dessen, was in dem Erzähler vor sich geht. Dem, was er fühlt. Denn er ist nicht der strahlende Held, er ist einer derjenigen, die mitgemacht haben. Er saß da bei einer Cola oder einem Bier und sah zu, wie das Mädchen misshandelt wurde...
David und Meg lernen sich an einem strahlenden Sommertag kennen. Am Fluss. Er sagt es nicht, aber so wie er das alles beschreibt, ist er auf der Stelle verliebt.
Sie war anders als die anderen Mädchen. Erstens war sie mindestens hundertmal hübscher (...) Sie war stark und voll leichter Anmut.
Nach dem Unfall ihrer Eltern kamen Megan und ihre jüngere Schwestern in das Nachbarhaus zu ihrer Tante Ruth und ihren Jungs Donnie und Willie (Woofer). Meg hat von dem Unfall Narben zurückbehalten, Susan etliche Knochenbrüche und Beinschienen.
Vielleicht sollte ich das Alter der Kinder erwähnen. Meg ist 14, David 12 Jahre alt. Susan ist 10. Die Kinder der Nachbarschaft sind alle in Davids oder Megs Alter. Woofer ist jünger, hängt aber mit ihnen ab. David übernachtet gerne bei den Chandlers. Ruth hat immer eine Cola für die Jungs, und ab und an auch ein Bier. Sie gilt als cool.
Aber irgendwie scheint sie Meg gefressen zu haben. Wahrscheinlich (so vermutet David später) weil sie so hübsch ist.
Wichtig für die Geschichte ist jedoch, dass die Kinder eigentlich auf der Schwelle zum Erwachsenwerden sind. Sie haben bereits eine Vorstellung von dem, was Falsch ist, aber eben doch nicht so richtig. Sie wissen nämlich auch, dass sie als Kinder keine Recht haben, und dass die Macht in den Händen von Erwachsenen liegt. Deshalb ist die Rolle von Ruth im Weiteren so wichtig.
Kinder sind Grausam. Woofer wirft Regenwürmer in Ameisenhaufen, und Eddie ist so verrückt, dass alle Kinder der Nachbarschaft Narben am Körper tragen, die sie ihm zu verdanken haben.
Sie haben auch ein Spiel. Dabei wird einer von ihnen an einen baum gefesselt, und die anderen quälen ihn solange, bis er ein Geheimnis verrät.
Aber das, was sich im Rahmen dieses Romans entwickelt, das hat eine ganz andere Qualität.
In der Nachbarschaft bekommt man natürlich so einiges mit. Schreie, Flüche, dass Ruth mal die Hand ausrutscht. Eigentlich ganz normal. Dass Kinder geschlagen wurden, war damals noch Alltag. Eine Tracht Prügel dann und wann gehörte wohl dazu. Aber als David Zeuge wird, wie Ruth Megs kleine Schwester an ihrer statt bestraft, da merkt er, dass dies etwas Außergewöhnliches ist. Vor versammelter Mannschaft zieht sie ihr das Höschen runter und verabreicht ihr 20 Schläge mit dem Gürtel.
David erkennt die Gemeinsamkeiten mit dem Spiel, und er findet es aufregend.
Aber Susan ist nicht das eigentliche Ziel von Ruths Zorn. Meg bekommt nichts zu essen, weil sie zu dick sei. Und als die Kinder zusammen zum Bach wollen, füllt sie die Thermoskannen mit Getränken. Ruth bezichtigt sie, Lebensmittel gestohlen zu haben – was Meg bestreitet. In Folge des Streits wird Meg hart in den Magen geboxt, woraufhin sich David verdrückt. Ruth gibt ihm ein Bier mit und sagt ihm, er soll über das gesprochene nicht sprechen.
Meg wendet sich an Officer Jennings. Doch die Polizei schreitet nicht ein. Die Situation verschlimmert sich, denn anschließend sperren sie das Mädchen in den Bunker (Einen Atombunker, wie ihn die Bürger der 50er gerne in ihren keller bauten).
Sie wird an Stricken aufgehängt, geknebelt, mit einer Augenbinde versehen. Sie soll gebrochen werden, und ihre Kraft und ihr Stolz macht alles nur schlimmer.
Ich weiß noch, dass ich dachte: Zum Glück bin ich es nicht.
Wenn ich wollte, konnte ich sogar mitmachen.
Und bei diesem Gedanken hatte ich ein Bewusstsein von macht.
Ruth redet immer wieder davon, dass Meg eine Schlampe sei, und dass sie mit den Jungs schlimme Sachen machen würde. Dass Jungs immer diese Sachen machen wollten, so wie ihr Mann, der sie letztendlich mit den Kindern allein gelassen hätte ... sie nutzt jede Möglichkeit, das Mädchen zu demütigen. Sie setzt die kleine Schwester als Druckmittel ein.
Meg wird nackt ausgezogen, mit Zigaretten verbrannt, verbrüht, geschlagen ... und David steht dabei. Er ist hin und hergerissen. Zum einen findet er das Ganze schrecklich falsch, und er verdrückt sich auch öfters, wenn es ihm zu heftig wird. Aber er steht auch dabei und sieht zu. Er findet es erregend, wenn Meg nackt vor ihm steht. Er genießt den Rausch der Macht.
Ich zitterte. Aber nicht wegen der Kälte, sondern wegen der Möglichkeiten.
Im Grunde genommen beschreibt das Buch nicht in erster Linie die Folterungen des Mädchens, sondern wie dieser Junge in die Rolle eines Täters hineinrutscht.
Tja, wie kann man ein solches Buch nur gut finden? Vielleicht weil wir nachvollziehen können, was in David vorgeht. Wir haben sicher alle schon einmal etwas getan, auf das wir nicht stolz sind. Schon während der Tat wussten wir, dass es falsch ist, konnten aber nicht damit aufhören. Sicher kein Mädchen gefoltert, eher einen Kuchen aus der Speisekammer stibitzt, oder einen Apfel aus Nachbars Garten.
Aber wenn man erst mal im Schlamassel drin steckt, dann kommt man nur sehr schwer wieder raus.
Aber in diesem Buch gibt es Möglichkeiten. Meg vertraut sich dem Polizisten an, und wir hoffen, das alles hat nun ein Ende.
Oder David redet mit seinem Vater, ob es okay ist, eine Frau zu schlagen.
Und natürlich als David den Bolzen der Tür entfernt und ihr Geld für die Flucht geben will...
... aber es gibt kein gutes Ende. David und Meg lernen die wahre Teenagerliebe niemals kennen. Ein Happy End gibt es nur in Hollywood. Aber die Hoffnung, die blitzt zwischendurch immer wieder auf. Zwischen Seiten voller Angst und Verzweiflung und Unbehagen. Und als Leser befinden wir uns ebenfalls auf dieser Achterbahn der Gefühle, und deswegen ist dieses Buch nicht nur gut, es ist berauschend. Und Ketchum hat seitdem nichts Vergleichbares geschrieben. Aber ein Denkmal hat er sich gesetzt. Mit dem Mädchen von Nebenan.
Was das Ganze noch viel beklemmender macht: Das Buch basiert auf wahren Begebenheiten. Wie der Original-Fall war, erfahrt ihr in dem Film An American Crime.
Aber auch Evil ist verfilmt worden. Und auch wenn der Film ziemlich beklemmend ist, dem Buch kann er nicht das Wasser reichen. (Man sollte ihn trotzdem mal gesehen haben!)
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