Titel: Am Ende der Leitung Eine Besprechung / Rezension von Erik Schreiber |
quintessenz nennt sich der Verein zur Wiederherstellung der Bürgerrechte im Informationszeitalter. Der Sitz des österreichischen Vereins ist die Hauptstadt Wien. Die Vereinsaktivitäten umfassen unter anderem die Veranstaltung der Big Brother Awards Österreich. Hiermit werden im jährlichen Rhythmus die schlimmsten Sünder wider den Datenschutz mit einem Negativpreis abgestraft.
Dieses Jahr veranstaltete der Verein zudem einen Schreibwettbewerb zum Thema "Am Ende der Leitung", an dem sich rund dreihundert Autorinnen und Autoren beteiligten. Die Jury mit Adrian Dabrowski, gleichzeitig Vereinsvorstand, Dr. Franz Rottensteiner, Herausgeber des Quarber Merkur und Christian Schmaus, Mitarbeiter der auf Grundrechte spezialisierten Kanzlei Bürstmayr und selbst in Sachen Menschenrechte aktiv, hatte es nicht leicht, aus den vorliegenden Kurzgeschichten die ihrer Meinung nach besten herauszusuchen.
Seit der Veröffentlichung von "1984", einer kritischen Gesellschaftsbetrachtung von Eric Blair alias George Orwell, und der kritischen Betrachtung durch Anthony Burgess in seinem Buch "1985" sind einige Jahrzehnte ins Land gegangen. Die erregten Streitgespräche über Menschenrechte und den Überwachungsstaat werden heute mit anderen Reizworten und Begriffen geführt. Vorratsdatenspeicherung, Nacktscanner, Bundestrojaner, RFID, Datenklau und andere mehr beherrschen das Thema. Vor diesem Hintergrund wollte der Verein quintessenz wissen, wie heutige Menschen über das Thema denken, und ließ sie in Form eines Wettbewerbes darüber schreiben.
Uwe Protsch - Null Punkte
In der Erzählung, die den dritten Preis gewann, berichtet Uwe Protsch über die Willkür eines einfachen Bundesbeamten. Aus falsch verstandener Aufklärungsarbeit wird eine Datenfälschung mit anschließendem Tod des Opfers durch eine Wohnungsstürmung.
Holger Dauer - Der kurze Sommer der Phantasie
Die Geschichte ist Ray Bradbury mit seinem Werk "Fahrenheit 451" gewidmet. Dem Ich-Erzähler wird langsam, aber sicher klar, dass er in der Zukunft lebt, die andere Autoren in ihren Werken vorhersagten.
Björn Schubert - Der Protokolleur
Der Überwachungsstaat einmal ganz persönlich.
Mirko Swatoch - Lauschangriff
Es kommt selten vor, dass ein Gedicht in eine Kurzgeschichtensammlung ihren Weg findet.
Katja Häuser - Kontrollierte Ahnungslosigkeit
Die Geschichte berichtet von Sam, einem Wissenschaftler, der sich um ein Problem kümmern muss, das inzwischen sehr viele Menschen betrifft: Der Strom ist ausgefallen.
Reinhold Schrappeneder - Abteilung ÜBLDA
Dies ist die Geschichte, die im Wettbewerb den zweiten Platz belegte. Was ÜBLDA bedeutet erschliesst sich erst am Ende der Erzählung. Also durchhalten und lesen.
Mary Jirsak - Alles richtig
Auch in einem Staat, in dem alles überwacht wird, ist ein Erfahrungsaustausch wichtig. Und wenn es nur handschriftlich geschieht.
Markus Pausch - Sie sind nicht allein
Im privaten Bereich fängt alles an - die Bespitzelung der Nachbarn, auch wenn es nur immer wieder kleine Notizen sind. Diese Erzählung erinnerte mich zum einen an eine Staffel von "Babylon 5" und an die amerikanischen Heimatschützer. Bestürzend.
Sarah Fiona Gahlen - Das Geheimnis
Geheimnisse sind immer nur so geheim, wie diejenigen, die mit den Geheimnissen umgehen, es zulassen.
Ulf Großmann - Verfahren
Die Regierung wird von den zehn größten Unternehmen des Landes gestellt. Man hat keine freie Wahlmöglichkeit.
Matthias Beirau - Der Besucher
Wenn der Herr, der die Überwachungsmethoden erfindet, selbst überprüft wird, ist das nicht lustig. So war das sicher nicht geplant.
Achim Stößer - Der Imperativ von Brokkoli
Auf der Flucht beginnt immer öfters das Leben, das in der totalen Überwachung endet. Thomas wird es herausfinden.
Carolin Keupp - Freie Meinungsäußerung
Ein Gedicht mit einer Meinungsäußerung, die erst noch formuliert werden muss.
Muna Bering - Ohne Blutvergießen
Eine Geschichte, in der die Überwachung einmal positiv dargestellt wird.
Jochen Micknat - Pavels Hund
Pavel Alexandrovich ist der Träger der Geschichte. Und die Quintessenz der Geschichte hat im Prinzip nichts mit Überwachung zu tun.
Arno Endler - Meine Farbe ist Schwarz
In dieser Erzählung geht es um ausgegrenzte Menschen, die zwar das Recht haben, in der Gemeinschaft einzukaufen, die ihnen aber im Endeffekt jeden Zugang verwehrt.
Patricia Weidinger - Spiel's noch einmal Sam
Die Erzählung erinnert mich ein wenig an Anthony Burgess und sein "Clockwork Orange".
Florian Beyer - EWE
Die Gewinnererzählung spielt auch wieder in einem Überwachungsstaat, nur mit der Aufforderung, dass jeder Bürger Überwachungsdienste durchführen muss.
Britta Martens - Sozialstaat 2200
Der Sozialstaat grenzt schon mal Leute aus. Aber es finden sich immer noch Dinge aus der Vergangenheit des Ölzeitalters, die gar nicht so schlecht waren.
Jürgen Hutaschalik - Fünf
Wenn das Finanzamt es mit dem Datenschutz übertreibt, geht schon einmal eine Geburtstagsüberraschung daneben.
Reinhard Griebner - Dunkelmänner
Noch bevor ich auf den Hinweis geachtet habe, hielt ich den Text für die Vorlage zu einem Lied.
Sascha Dickel - Panoptikum
Was hier in vielen einzelnen Teilen beschrieben wird, könnte einem Panoptikum des Schreckens entsprungen sein.
Stephan Lack - Frittierte Belugas mit Ohren
Claire und Augustine wollten in ein besonderes Restaurant. Die Anmeldeliste ist so lang, dass man Jahre warten muss, bevor man einen Platz erhält. Ein Amoklauf trübt jedoch den Spaß.
Felix Woitkowski - InEnerxy
Felix ist schon bekannter als die anderen Autoren, arbeitet auch als Herausgeber. Seine Erzählung behandelt den Beginn der größten Energiefirma und deren seltsame Arbeitsweise.
Wendelin Augst Mayer - Digitale Blumen
Wer sich bei wer-kennt-wen.de oder bei xing.com angemeldet hat kann sehr viel über sich preisgeben. Genau wie in dieser Erzählung.
Michaela Kuich - Frau Mairand
Die Ich-Erzählerin hat ein kleines Problem, das sich so schnell nicht lösen lässt.
Tobias Peterka - Tiamat 58 A
Eine Cyberpunkgeschichte, in der Kinder im Mittelpunkt stehen.
Es fällt schwer, auf Kurzgeschichten gebührend einzugehen, ohne etwas zu verraten. Ein Satz zur Erzählung soll genügen, neugierig auf sie zu machen. Von den Erzählungen hat mir jede gefallen. Allerdings konnte ich die Sammlung nicht in einem Zug durchlesen. Die Anti-Utopien, die hier versammelt sind, machen in der Vielzahl doch etwas depressiv und sind sehr beklemmend. Denn hinter jeder Geschichte könnte die Wahrheit stecken und nicht nur ein Kern Wahrheit.
Es ist auch bedauerlich, dass fast jede Erzählung das Schlechte in der Überwachung sieht. Ich hätte mir manch eine positivere Erzählung gewünscht, auch wenn ich nicht daran glaube. Die Frage, die sich in jedem Fall stellt, ist: Wohin führt unser Weg in die Zukunft? Jeder weiß alles über jeden und manchmal mehr als man über sich selbst. Wissen Sie, was Privatsphäre heißt? In der Zukunft wohl nicht mehr. Privatsphäre wird zu einem Fremdwort.