Serie: Bibliothek des Grauens, Band IV |
Seit jeher haben Berichte über seltsame Ereignisse, bizarre Ungeheuer und fremde Länder die Fantasie der Menschen angeregt. Während man heute aus der Beobachtung eigenartiger Lebewesen und übersinnlicher Phänomene eigene wissenschaftliche Nischen geschaffen hat (wie zum Beispiel Kryptozoologie und Parapsychologie), so stammen die frühesten Berichte dieser Art vor allem von Seefahrern, welche auf ihren weiten Reisen Lebewesen und Naturphänomenen begegneten, die sie nie zuvor gesehen bzw. für die sie einfach keine Erklärung hatten. Hinzu kam der Aberglaube, der das Weltbild der Seeleute noch bis hinein ins 19. Jahrhundert beherrschte und nur nach und nach wissenschaftlichen Erkenntnissen Platz machte. Für die Zuhausegebliebenen waren die Erzählungen von Riesenkraken, Meerjungfrauen, Geisterschiffen und anderen aufregenden Ereignissen sehr beliebt und haben bis heute nichts von ihrer Spannung und Faszination verloren.
Im späten 19. Jahrhundert begann der Marinepfarrer Paul Gerhard Heims, die Erzählungen der Seefahrer und die Berichte über deren Aberglauben zu sammeln, und veröffentlichte diese schließlich im Jahr 1888 unter dem Titel "Seespuk. Aberglauben, Märchen und Schnurren in Seemannskreisen". Heims bereiste selbst für mehrere Jahre die Weltmeere und kannte daher das Seemannsleben und die Gefahren auf hoher See aus eigener Erfahrung. Und genau daraus ergibt sich die Besonderheit seines Buches. Es ist keine bloße Auflistung bizarrer und unheimlicher Wesen und Zwischenfälle, sondern stets gewürzt mit seinen eigenen Erkenntnissen und Erlebnissen. Dies macht seinen Schreibstil besonders lebendig.
Der Historiker Michael Kirchschlager hat diesen Klassiker des Seespuks in seiner "Bibliothek des Grauens" neu herausgegeben. Das Buch besteht aus insgesamt 19 Kapiteln. Seegeschichten des Altertums bilden hierbei den Auftakt. Diesen folgen Kapitel über Meermänner und Meerfrauen, Riesenkraken, Seeschlangen, Geisterschiffe, sagenhafte Länder und versunkene Städte, Geistererscheinungen auf See und noch viele andere.
Die einzelnen Kapitel sind sehr lebhaft und spannend geschrieben und erfreuen sich eines unglaublichen Detailreichtums. Der Leser erfährt unter anderem, in welchem historischen Ereignis die Sage über den Fliegenden Holländer ihren Ursprung hat, was der Name Klabautermann bedeutet, welche Länder, außer Atlantis, angeblich ebenfalls untergegangen sind und wieso eine Frau an Bord Unglück brachte. Man erfährt Interessantes über die ersten Sichtungen von Riesenkraken im Altertum und wofür sie damals gehalten wurden und wieso es angeblich Unglück brachte, wenn ein Kapitän mit seinem Schiff an einem Freitag in See stach. Dabei schildert Heims Beobachtungen und beschreibt verschiedene Arten von Aberglauben aus der Antike über das Mittelalter bis hin in die Neuzeit, wobei er jeweils versucht, rationale Erklärungen dafür zu finden. Hierbei verhält sich Heims jedoch keineswegs lehrmeisterhaft, sondern erklärt mit viel Witz und zum Teil leichter Ironie. Zusätzlich vergleicht er diese seltsamen Dinge mit seinen eigenen Erfahrungen, was dem Leser einen überaus lebendigen Einblick in das frühere Seemannsleben gibt. Am Ende des Buches bedauert Heims, dass durch das Aufkommen der Dampfschiffe der abergläubische Seemann mehr und mehr verschwand: "Der alte Seemann, der an das Meerweib, den Fliegenden Holländer und den Klabautermann glaubte, ist so gut wie ausgestorben" (S. 251).
Das Buch ist illustriert mit vier Abbildungen der Originalausgabe von 1888 sowie mit vielen weiteren Bildern aus dem 13. und 17. Jahrhundert, die einen Eindruck darüber vermitteln, wie sich die damaligen Menschen die jeweiligen Seeungeheuer und bis dahin noch unbekannten Lebewesen vorgestellt haben. Ein Glossar mit den wichtigsten Seemannsbegriffen befindet sich am Schluss des Buches.
Insgesamt ist Heims "Kraken/Monster/Seemannsgarn" äußerst faszinierend. Es macht Spaß, den alten Geschichten zu folgen und auch die Erklärungen zu den einzelnen Phänomenen zu lesen. Der kurzweilige, plaudernde Schreibstil des Marinepfarrers ist dabei ein wahrer Genuss.