Serie: ~ Eine Besprechung / Rezension von Rainer Skupsch |
Die neunjährige Allie Gebhardt lebt mit ihrer Mutter Judy, ihrem jüngeren Bruder Bethan und Mutters derzeitigem Lebensgefährten Ray in einer ungenannten australischen Stadt. Bisher musste sich Allie immer ein Zimmer mit ihrem jüngeren Bruder teilen; doch jetzt ist endlich Besserung in Sicht: Mum hat ein größeres Haus gefunden - mit einem Extraschlafzimmer für Bethan! Allies Vorfreude bekommt einen ersten Dämpfer, als sie das Gebäude zum ersten Mal sieht: Ihr neues Heim ist ein heruntergekommenes viktorianisches Reihenhaus, das in der letzten Zeit von Hausbesetzern bewohnt war. Eine Menge Renovierungsarbeiten werden nötig sein, um es wieder instandzusetzen. Nicht zuletzt Bethans kleiner Raum braucht einen neuen Anstrich; denn seine Wände und Decke sind über und über mit Schriftzeichen bedeckt.
Einige Zeit später ist es dann aber so weit - die Familie kann einziehen. Doch schon sehr bald beginnen die Probleme. Bethan hat gleich in den ersten zwei Nächten Alpträume, in denen ihm etwas in den Rachen gestopft wird, bis Bethan glaubt zu ersticken; und auf den weiß gestrichenen Zimmerwänden finden sich von unbekannter Hand geschriebene Sätze. Zuerst glaubt Mutter an einen schlechten Scherz und droht Bethan mit Fernsehverbot. Letztlich muss sie aber einsehen, dass die Sätze viel zu sauber geschrieben sind, darüber hinaus in altertümlichen Buchstaben, die Bethan gar nicht kennt. Da erinnert sich Allie an einen alten Gedichtband, den sie beim Renovieren gefunden hat und in den der Name Eglantine Harris und die Jahreszahl 1906 eingetragen waren. Ein Vergleich zeigt, dass beide Handschriften identisch sind. Geht ein Geist um in Bethans Zimmer?
Der kleine Junge weigert sich, weiter dort zu schlafen, und zieht zu seiner genervten Schwester. In dem nun verlassenen Raum stehen jeden Morgen neue Sätze an den Wänden. Mutter gibt Allie die Aufgabe, sie alle aufzuschreiben, während sie selbst verschiedene Experten ins Haus holt, um das Gespenst zu vertreiben. Nach und nach geben sich Leute von PRISM (einer Organisation, die übersinnliche Phänomene wissenschaftlich untersucht), ein Feng-Shui-Meister sowie ein Medium die Klinke in die Hand. Unterdessen stellt Allie eigene Nachforschungen an, um das Geheimnis von Eglantine Harris zu lösen ...
Catherine Jinks hat mit Die Geisterschrift ein Buch für sehr junge Leser geschrieben. Ihre Ich-Erzählerin Allie ist neun, und damit dürfte ihr Zielpublikum höchstens genauso alt sein, eher jünger. Mit ihrer Geschichte verfolgt die Autorin mehrere Absichten. Zuerst, und ganz offensichtlich, möchte sie ihren Lesern die Angst vor Gespenstern nehmen. Im Verlauf der Handlung werden zwar Anspielungen auf Poltergeist und vor allem den Exorzisten geboten, gleichzeitig wird aber immer wieder betont, dass solche Schocker nichts mit dem 'ganz normalen Geist von nebenan' gemeinsam haben. Allie findet im Laufe ihrer Nachforschungen heraus, dass Eglantine Harris ein sensibles, intelligentes Mädchen war, das letztlich gerade dadurch magersüchtig wurde und schon mit siebzehn starb. Fast das gesamte Buch spielt in dem alten Reihenhaus. Trotzdem fehlen dem Buch absichtlich jegliche bedrohliche Spannungselemente; Eglantine selbst tritt nie auf. Dies ist e i n Grund dafür, dass Die Geisterschrift für den erwachsenen Leser zu einer recht langweiligen Lektüre wird. Ein anderer Grund ist, dass das didaktische Gerüst doch sehr offen sichtbar ist. Catherine Jinks will ihrem Zielpublikum Hilfestellungen im Alltag geben und außerdem Wissen vermitteln. Sie beschreibt sehr realistisch, wie eine Geistergeschichte in unserer modernen Gesellschaft zwangsläufig Zeitungen und TV-Crews auf den Plan ruft. Sie zeigt, wie man in der Welt der Erwachsenen Informationen über Menschen und Häuser sammeln kann, und nennt sogar die tatsächliche Internet-Adresse der Standesamtsbehörde des Bundesstaats New South Wales (www.bdm.nsw.gov.au). Sie warnt eindringlich vor einem übertriebenen Schlankheitsideal und lässt zum 'Schnuppern' zwei Namen der Hochkultur (Tennyson und Shakespeare) in die Geschichte einfließen.
Was bei all dem zu kurz kommt sind die Menschen. Die handelnden Personen bleiben bloße Namen, entwickeln nie ein Eigenleben. Allie ist offenbar ein hochbegabtes Kind, das in ihrem Zimmer statt Popstar-Postern lieber ein Bild Heinrich des VIII. sowie ein Schädelmodell aus Plastik hat. In der Schule wird sie unvermeidlich mit ihrem Geisterhaus aufgezogen. Leider werden diese Dinge jedoch nur erwähnt und (mit Blick auf das Alter der Leser und die Kürze des Buches?) gleich wieder vergessen. Mehr Raum wird dafür den Vertretern der Esoterik und Pseudowissenschaften gewährt. Catherine Jinks betrachtet sie mit sanfter Ironie, ohne endgültig Stellung zu beziehen. In manchen Situationen geben sie ein eher komisches Bild ab; letztlich schafft es aber einer von ihnen (während Allie friedlich schläft!), Eglantine zur ewigen Ruhe zu verhelfen.
Bei der Lektüre dieses Romans habe ich die Erkenntnis aufgefrischt, dass Kinderbücher - im Gegensatz zu guten Jugendbüchern - ein 'Verfallsdatum' haben. Irgendwann werden die meisten von uns zu alt für Pippi Langstrumpf, nicht aber für Ronja Räubertochter. Wenn mich Die Geisterschrift nicht berührt hat, sagt das also nicht viel über das Buch aus. Trotzdem habe ich einen Einwand gegen das Werk, der sich meiner Meinung nach nicht so einfach wegwischen lässt. Catherine Jinks lässt mit "PRISM" eine real existierende Organisation auftreten (bei der sie sich in der Einleitung für ihre Unterstützung bedankt). Das finde ich bedenklich. Ich glaube, auch jüngere Kinder wissen im Grunde, dass es Geister wohl nur in Gruselgeschichten gibt. Wenn man, wie Jinks, jedoch die Trennung zwischen Roman und Wirklichkeit aufhebt, durchkreuzt man seine eigentlichen Ziele und braucht sich nicht zu wundern, wenn ein Kind sich weigert, allein in einem dunklen Zimmer zu schlafen.