Reihe: Die Geheimnisse des Brückenorakels, Band 1 Eine Besprechung / Rezension von Melanie |
Das in dunklen Rottönen gehaltene Cover zeigt das Zifferblatt einer Uhr, in dessen Mitte man einen einsamen Jungen über die Londoner Tower Bridge laufen sieht. Innerhalb dieser Szenerie und vor dem Zifferblatt der Uhr kann man die Silhouetten von Raben erkennen. Endlich mal ein Cover, das hübsch anzusehen ist und einen eindeutigen Bezug zum Buch hat. Mit beiden Beinen und einem Arm in Gips erwacht der Junge ohne Gedächtnis in einem Krankenhaus. Im Anbetracht der Tatsache, dass er einen Zusammenstoß mit einer U-Bahn hatte, ist sein Zustand allerdings erstaunlich gut. Nicht so erstaunlich jedoch wie die Witze und Rätsel des merkwürdigen kleinen Mannes im Hausmeisterkittel – Foster – oder die Tatsache, dass ihn der Nachrichtensprecher im Fernsehen zur augenblicklichen Flucht auffordert.
Mit nichts als seinem Namen flieht der Junge – Avi – nach einem Angriff aus dem Krankenhaus. Unterstützt von seinem Wächter und dem Menschenmädchen Hannah versucht er, seine Vergangenheit aufzudecken – und sich nicht von seinen Verfolgern erwischen zu lassen.
Eine Geschichte, die damit beginnt, dass ein Junge ohne Gedächtnis in einem Krankenhaus erwacht, verspricht einiges an Spannung. Und genau das bringt “Himmelsauge” auch. Auf das Krankenhaus mit mehr oder weniger lustigen Witzen und Rätseln von Foster folgen Ereignisse, die für unsere Welt ganz sicher nicht gewöhnlich sind: Nachrichtensprecher, die Avi direkt ansprechen; Zeit, die plötzlich stillsteht; die Bedrohung durch das blaue Feuer eines unheimlichen Mannes – Kellen – und Avis rasante Flucht vor den Kobolden. Melissa Fairchild stürzt Avi dabei zusammen mit dem Leser in ein ziemlich fantastisches London. Da Avi sein Gedächtnis verloren hat sind die Begegnungen mit Geschöpfen wie Goblins, Kobolden und Elfen für ihn genau so überraschend wie für den Leser – die Erläuterungen zu diesen Gestalten durch Avis Gefährten sind für den Leser dabei ebenso aufschlussreich wie für ihn selbst.
Hin- und Hergerissen zwischen dem, was er fühlt, glaubt und weiß kann Avi eigentlich niemanden trauen – und muss es doch tun. Ob er damit richtig liegt, kann man auch als Leser nur vermuten. Den Bösewicht der Geschichte, Kellen, kann man ziemlich schnell einordnen, die übrigen Gestalten an Avis Seite müssen sich jedoch erst beweisen. Sympathien verteilt man als Leser allerdings genau so schnell wie Avi selbst: An das Menschenmädchen Hannah, das Avi tatkräftig zur Seite steht und später seine einzige Motivation ist, weiterzumachen – und das, obwohl es nur zufällig in die Geschehnisse hineingeraten ist (es saß in dem Taxi, das Avi zur Flucht aus dem Krankenhaus geholfen hat); an das Elfenmädchen Brucie, das Avi schon die ganze Zeit über in der Menschenwelt begleitet hat (auch, wenn er sich daran nur bruchstückhaft erinnert), ohne es dabei an schnippischen Kommentaren mangeln zu lassen; an den faszinierenden Roosevelt, der sich in der Menschenwelt mehr recht als schlecht ergehen lässt (zu Beginn der Geschichte logiert er gerade in der Präsidentensuite des Savoy). Nach Avis spektakulärem Wechsel in die Feenwelt verläuft die Geschichte im Vergleich zur vorangegangenen Geschwindigkeit geradezu im Schneckentempo. Durch die Zeit am Feenhof werden Avi und der Leser ziemlich ausgebremst. Durch den Einsatz neuer und “alter” (wenn auch wieder unbekannter) Figuren bringt Melissa Fairchild die Geschichte wieder aufs Gleis und führt die Geschehnisse wieder etwas temporeicher zu einem zufriedenstellenden Ende. Trotz des fast stetigen Tempos und den facettenreichen Figuren ist bei mir der Funke der Geschichte nicht ganz übergesprungen. Mir fehlte der rote Faden, der sich durch die ganze Geschichte hindurchzieht – am Anfang ist dies mit dem Gedächtnisverlust von Avi sicherlich gerechtfertigt, später sollte man als Leser meiner Meinung jedoch einige Hintergründe mehr erfahren. Das einzig wirklich durchgängig klare Motiv ist für mich schlussendlich das des Bösewichtes. Allerdings sollte man auch über den Helden eines Buches mehr erfahren dürfen, als dass er bereit ist, für seine Freunde einige Risiken einzugehen.
Vielleicht klären sich einige der Punkte im Nachfolgeband “Weltenwanderer” – zumindest einen Blick würde ich hier mal riskieren. Und auch, wenn ich “Himmelsauge” vermutlich nicht zweimal lesen werde, hat mir das Buch doch einige angenehme und humorvolle Lesestunden gebracht – und kann sie sicher auch noch dem ein oder anderen Leser bringen.