Titel: Drood Eine Besprechung / Rezension von Alexander Pechmann |
Am 9. Juni 1865 überlebt der berühmte englische Schriftsteller Charles Dickens mit knapper Not ein schweres Eisenbahnunglück. Als er versucht, den zahlreichen Verletzten und Sterbenden zu Hilfe zu kommen, begegnet er einer merkwürdigen Gestalt im schwarzen Umhang, die zwischen den Opfern des Unglücks umherschleicht und ihre letzten Atemzüge begleitet. Dickens berichtet seinem Freund, dem opiumsüchtigen Autor Wilkie Collins, von diesem Mann namens Drood, dessen wahre Identität er um jeden Preis ergründen möchte. Die beiden Freunde folgen Droods Spur, die in die Elendsviertel Londons und in die „Unterstadt“ führt, wo eine uralte Sekte den Glauben an die ägyptischen Gottheiten wachhält Obwohl Wilkie Collins die Vorstellung eines unheimlichen Verbrechers, der mittels Hypnose und ägyptischer Magie über die Londoner Unterwelt herrscht, anfangs für lächerlich hält, gerät er zunehmend in den Bann dieser unglaublichen Geschichte - bis er schließlich durch allerlei rätselhafte Zwischenfälle davon überzeugt wird, dass Charles Dickens längst zu einem willenlosen Werkzeug Droods geworden ist
Dan Simmons neuer Roman erzählt in erster Linie von Charles Dickens letzten Lebensjahren aus der Perspektive von Wilkie Collins, dem Freund und Rivalen des großen Autors. Er liefert dabei eine intelligente Collage aus biographischen Fakten und Fiktionen, die man gleichzeitig als Hommage an die frühen Kriminalromane des Viktorianischen Zeitalters lesen kann. Freunde von Wilkie Collins „Monddiamant“, „Die weiße Frau“ oder Charles Dickens „Geheimnis von Edwin Drood“ werden ihre Freude an den zahlreichen Anspielungen und Gedankenspielen rund um die Entstehung dieser Klassiker haben. Leser, die Dan Simmons frühere Horrorromane schätzen, werden jedoch vermutlich ein wenig enttäuscht über die etwas fadenscheinige phantastische Rahmengeschichte sein. Doch geht es in dem Roman eben nicht um schrille Horroreffekte, sondern um den allmählichen Abstieg von Wilkie Collins in eine eigenartige Wahnwelt, die von seiner Drogensucht ebenso beherrscht wird wie von seinem heimlichen Hass und Neid auf den ewig überlegenen Konkurrenten Charles Dickens. Zwar gibt es in dem Roman auch einige eindrucksvolle Szenen des Grauens und atmosphärische Schilderungen von Katakomben, Friedhöfen und Opiumhöhlen, doch interessant ist der Roman vor allem als literaturgeschichtliche Spekulation und biographische Fiktion. Insofern kann man das detailreiche und trotz seiner rund 1000 Seiten ziemlich kurzweilige Buch jedem empfehlen, der die Unterhaltungs- und Spannungsliteratur des 19. Jahrhunderts schätzt. „Das größte Geheimnis der Literaturgeschichte“ bleibt allerdings, entgegen den vollmundigen Versprechungen des Klappentextes, weiterhin ungelöst.