Titel: Der Kormoran |
Ende der 80er Jahre gab es die letzte nennenswerte Horrorwelle in Deutschland. Vor allem die großen Verlage brachten eigene Horroreditionen heraus. Am schrillsten schnitt damals der Knaur Verlag ab, der mit seiner Taschenbuchreihe in Sachen Cover aus allen übrigen Titelreihen hervorstach. Die schön bunten, teils kitschigen Cover sollten den Sammlerreiz beim Horrorfan auslösen, doch leider ging der Schuss nach hinten los. Knaur brachte in Deutschland völlig unbekannte Autoren heraus und versuchte diese sozusagen über das Cover zu verkaufen. Zwar kam dadurch der Leser in den Genuss der teils debilen Action-Horror-Romane von Stephen Laws (Blutiges Fest, Geisterzug) sowie der Nazi-Zombies in Robert McCammons "Tauchstation", doch ansonsten fiel die Serie größtenteils durch unerfahrene Autoren auf, deren Lizenzen für wenig Geld zu haben waren. Nichtsdestotrotz versteckte sich in diesem Sammelsurium auch gelegentlich eine kleine Perle, die es zu entdecken gab.
Unter anderem ist hierbei Gregory Stephens' Roman Der Kormoran zu nennen, der sogar mit dem Somerset-Maugham-Preis ausgezeichnet wurde. Der Roman schildert die Geschichte von Ann und ihrem Mann, die zusammen mit ihrem Sohn das Haus ihres Onkels geerbt haben. Allerdings dürfen sie das Erbe nur antreten, wenn sie sich bereit erklären, sich um den Kormoran des Onkels zu kümmern. Gesagt, getan. Doch mit der Zeit entpuppt sich der Wasservogel als alles andere als putzig. Immer mehr zieht er den Sohn der beiden in seinen Bann. Auch Anns Mann John scheint sich dem seltsamen Vogel nicht mehr länger entziehen zu können. Als der Kormoran den Jungen angreift, hält es Ann nicht mehr länger aus und packt ihre Sachen. Aus dem Beisammensein mit dem Vogel wird für John ein Kampf ums Überleben.
Gregory Stephens' Geschichte besticht eher durch seine leisen Töne und Andeutungen als durch tatsächlichen Grusel. Ähnlich wie Algernon Blackwood in seiner Erzählung "Wendigo" entwirft Stephens eine bedrohliche Atmosphäre, die ihren Ursprung in der Natur hat. Es bleibt offen, ob der Kormoran von einem bösen Geist besessen ist oder ob er, dem Aberglauben nach, tatsächlich den Tod bringt. Als Stadtmensch steht Ann sowieso der Natur eher misstrauisch gegenüber. Aus dieser Perspektive wäre es denkbar, dass der Vogel auch einfach nur auf das falsche Verhalten seiner neuen Besitzer reagiert. Und genau an diesem Punkt wird der Roman interessant. Denn die Frage, die Stephens dem Leser stets vor Augen hält, lautet: Besitzen Ann und John den Vogel oder besitzt der Vogel vielmehr Ann und John?
Fazit: ein spannender, stark atmosphärischer Horrorroman.