Serie: Die Welt von Lucie, Band 1 Eine Besprechung / Rezension von Frank Drehmel |
Mitten in der Vorweihnachtszeit wird das Northgate Shopping Center zum Ziel eines terroristischen Anschlags und verwandelt sich in eine Flammenhölle. Die Zahl der Toten geht in die Hunderte! Ein kleines, achtjähriges Mädchen - Margaret - jedoch überlebt das Inferno, begraben unter einem Berg rauchender Trümmer, zwar bewusstlos, jedoch vollkommen unverletzt.
Für die Regierung ist dieses Wunder Anlass genug, über diesen Vorfall nicht nur eine absolute Nachrichtensperre zu verhängen und zwei Ermittler der Anti-Terror-Einheit, Chief Inspector Mike Roberval sowie dessen Assistenten Inspector Karakis, auf die Hintermänner anzusetzen, sondern die scheinbar traumatisierte, in einer Art Koma liegende Kleine auch den Wissenschaftlern des SPMR - der Society for Paraphysical Medical Research - zu überstellen.
Die Leiterin des Instituts, Doktor Emma Chapman, lässt die Polizisten zwar an ihren Erkenntnissen teilhaben, tappt aber selbst im Dunkeln, was den Zustand des Mädchens betrifft. Daher beschließt sie, einen Ex-Kollegen und -Freund, den hochbegabten russischen Telepathen Sascha Iablokov, einzuschalten, auch wenn der sich mittlerweile wegen psychischer Probleme weitgehend aus der Öffentlichkeit und der Forschung zurückgezogen hat.
Während Iablokov nach und nach in die Geheimnisse um Margarets wundersame Rettung eintaucht, in Geheimnisse, die in die Vergangenheit der Sowjetunion und zu gefährlichen parapsychologischen Versuchen führen, die von dem damaligen Experimentator nicht mehr beherrscht wurden, taucht unter den Straßenkindern der Stadt ein merkwürdiges Mädchen in einem Nachthemd auf.
Die junge, toughe Soledad, die Anführerin einer kleiner Bande dieser Kids, nimmt sich des scheinbar stummen, verloren wirkenden Mädchens an, dessen Name - so vermutet sie - Lucie lautet. Es dauert nicht lange, bis Soledad sich über merkwürdige Ereignisse im Umfeld ihrer neuen Freundin zu wundern beginnt.
Und nicht nur staatliche Stellen sind in die Angelegenheit involviert; auch eine mysteriöse Organisation - die „Church of God“ - interessiert sich für die Vorgänge im Einkaufszentrum, das Auftauchen Lucies und das Hinzuziehen Iablokovs.
Mit „Die Welt von Lucie“ haben Kris und Martinez ein Comic geschaffen, das die Grenzen des Genres zwar nicht sprengt oder tangiert, aber in seiner Gesamt-Konzeption einen deutlich romanhaften Eindruck vermittelt.
Zunächst einmal ist der komplexe und komplizierte Aufbau augenfällig: Der Autor springt von Beginn an in mal kürzeren, mal längeren Szenen zwischen Personen, Handlungsorten und Zeiten hin und her, fügt schlaglichtartige Sequenzen zu einem Puzzle zusammen, das nur ganz allmählich ein erkennbares, klares Bild liefert. Dieser erzählerische Ansatz fordert vom Leser nicht nur Geduld, sondern verleitet auch ein ums andere Mal zum Zurückblättern innerhalb der Geschichte, macht also ein aktives Rezepieren notwendig.
Zweitens stehen im Mittelpunkt der Story die Figuren in ihren Beziehungen, mit ihrer Vergangenheit und ihren Erfahrungen, welche Kris in einer erzählerisch sehr ruhigen, zum Teil dialoglastigen Art und Weise zeichnet, während das Metaphysische, das Paranormale zwar ein tragendes Handlungselement darstellt, aber gegenüber dem Menschlichen in den Hintergrund tritt, zumal sich Kris in seiner Beschreibung und Ausarbeitung ebenfalls eines zurückhaltenden, eher analytischen und nicht reißerischen Ansatzes bedient. Von daher wäre der Begriff Mystery-Thriller für dieses Comic-Album zu hoch gegriffen, denn der Autor verzichtet auf eine „Nerven zerfetzende Spannung“ zugunsten einer anfänglich verhaltenen, sich im Verlauf jedoch steigernden „Suspense“.
Ein Problem der Geschichte soll nicht unerwähnt bleiben: Es mangelt ihr an greifbaren Sympathieträgern bzw. Identifikationsfiguren, so dass der einzige bodenständige Charakter lediglich Chief Inspector Mike Roberval ist, der sozusagen den skeptischen Blickwinkel des Lesers repräsentiert.
Das Artwork Guillaumes zeichnet sich durch eine kühle Distanziertheit aus. In seinen klaren, relativ statischen Zeichnungen mit ihrer leicht skizzenhaften Note scheint es ihm weniger darum zu gehen, Nähe zu erzeugen oder Gefühle zu wecken, als vielmehr die Situation wie ein Chronist zu dokumentieren. Emotionalität erwächst erst aus der Koloration, wobei einzelne szenische Zusammenhänge durch bestimmte Grundtöne gegeneinander abgegrenzt werden, wodurch dem Leser die Orientierung etwas erleichtert wird.
Fazit: Die kompliziert konstruierte Geschichte sowie das kühle, distanzierte Artwork vermögen den Leser nur ganz allmählich in ihren Bann zu ziehen, gewinnen aber schlussendlich genug an Intensität, um den Leser der Fortsetzung gewogen zu machen.