Serie: Crossed, Band 2 Eine Besprechung / Rezension von Frank Drehmel |
Nachdem für den ersten Crossed-Totalausfall das Team Ennis/Burrows verantwortlich zeichnete, durften für die zweite Miniserie Routinier-Szenarist David Lapham und der Comic-Debütant Javier Barreno Tastatur respektive Zeichenfeder schwingen. Um es vorweg zu nehmen: sie liefern mit „Familienbande“ eine ordentliche Arbeit ab, die die ihrer Vorgänger nicht nur im Längen hinter sich lässt, sondern sie geradezu vergessen macht.
Es beginnt auf einer riesigen Pferderanch in Lincolntown/North Carolina: hier fristet die Großfamilie Pratt ein nach außen hin gottesfürchtiges, arbeitsreiches und nicht zuletzt wohlhabendes Leben. Doch dieses ist nur Fassade, denn hinter den geschlossen Türen vergeht sich der Vater an seinen Töchtern und prügelt jedes Aufbegehren insbesondere der mittlerweile erwachsenen – und daher sexuell uninteressanten - Adaline brutal nieder, während die Mutter und der Rest der Familie wegschauen.
Als dann jedoch eines Tages eine Horde von der Epidemie Gezeichneter – gewalttätige, sadistische, schmerzunempfindliche und sexuell vollkommen enthemmte Menschen - vor Ort auftaucht, schweißt das Unglück die Familie zunächst wieder zusammen und zwingt die Pratts zur Flucht. In einem abgelegenen Talkessel in Montana finden sie eine neue Heimat und gründen dort eine kleine Niederlassung namens New Paradise. Doch Frieden finden sie in der Abgeschiedenheit nicht, denn die Monster lauern nicht nur außerhalb, sondern nach wie vor auch in der Familie, in der der Konflikt zwischen dem zunehmend religiös-fanatischen Vater und seiner Tochter Adaline eskaliert. Zudem macht nicht nur die Seuche nicht vor Familienbanden Halt, sondern auch die monströsen Sexual-Sadisten erreichen die Zuflucht.
Erneut müssen die überlebenden Pratts in eine Welt fliehen, in der ein einfacher, schneller Tod nur den Glücklichsten vorbehalten bleibt.
Während im ersten Tradepaperback Gewalt lediglich eines billigen Voyeurismus wegen und aus reiner Effekthascherei zelebriert wird und Handlung sowie Protagonisten die Stärke von Seidenpapier aufweisen, bemüht sich Lapham eine Geschichte zu erzählen, die zwar auch in bildlicher wie sprachlicher Hinsicht ultrabrutal daherkommt, die aber dennoch als deutliche Botschaft eine Dekonstruktion bzw. Karikierung, einen Blick hinter die Fassade traditioneller, konservativer Familienwerte, eines christlichen Fundamentalismus und eines penetranten Machismus enthält. Insofern passt das Coverbild des Tradepaperback, das ein Zitat des berühmten, in konservativen Kreisen umstrittenen Gemäldes „American Gothic“ des us-amerikanischen Künstlers Grant Wood darstellt, wie die Faust aufs Auge oder die Mistgabel in die Eingeweide.
Weil Lapham in seinen Figuren mehr als bloße Projektionsflächen für sexual-sadistische Gewaltphantasien sieht, sondern sie in einen nachvollziehbaren sozialen Kontext stellt, geht deren Passion dem Leser emotional deutlich näher als das platte Abschlachten à la Ennis.
Das mainstreamhafte Artwork dieser zweiten Serie unterscheidet sich nicht fundamental von dem des ersten Tradepaperback, außer dass es spürbar texturreicher und düsterer daherkommt und eine stärkere Tendenz zu großformatigen Panels aufweist, die den Leser mit expliziter, z.T. plakativen Gewalt geradezu überwältigen.
Fazit: Eine bitterböse, ultrabrutale Abrechnung mit traditionellen Familienwerten, die gleichermaßen Voyeure wie anspruchsvollere Leser interessieren dürfte, wobei letztere allerdings keine hochliterarische oder diffizile Herangehensweise erwarten können. Gegenüber dem grottenschlechten ersten Teil geradezu ein qualitativer Quantensprung.