Titel: Zwischen zwei Träumen Eine Besprechung / Rezension von Rainer Skupsch |
Träume sind Schäume
„- Kennen Sie den Traum, in dem man gefangen bleibt?, fragte ich.
- Ja, sagte [die Indianerin], ich kenne einen, in dem man gefangen bleibt. Er ist sehr, sehr alt. Die meisten hier kennen ihn.“ [S. 245]
Eine namenlose Stadt in einem namenlosen Land, vielleicht in Mitteleuropa. Und eine nahe Zukunft, die sich kaum von dem Alltag unterscheidet, wie wir ihn kennen. Wenn ja wenn da nicht die neue Droge wäre, die die Gesellschaft umkrempelt, als der Ich-Erzähler Nesta gerade zwölf ist. Irgendjemand hat eine Methode gefunden, menschliche Träume in Form flüssiger Tropfen aufzuzeichnen und sie in Pipetten massenhaft und billig unter die Leute zu bringen. Bald schon haben die Traumtropfen den Alkohol als Volksdroge ersetzt. Als Nesta vierzehn ist, „tropft“ er zum ersten Mal. Ihm ist schnell klar, dass er von Beruf „Vorträumer“ werden möchte. „Ich hatte nur diesen einen Wunsch im Leben“, sagt er später [S. 48], und an diesem Lebenstraum wird er festhalten, so lange er nur kann.
Viele Alternativen hätte er auch nicht. In der Schule läuft er so mit. Seine Berufsaussichten sind nicht rosig. So verbringt Nesta einen großen Teil seiner Jugend mit seinem besten Freund Salomon Cennet, genannt Sal. Immer sind die zwei auf der Suche nach dem perfekten Traum und neuen Mädchen. Sals größter - realer - Traum (ich glaube, es wird bereits klar, wie sehr in diesem Buch die Metapher des ‚Traumes’ strapaziert wird) ist es, ein berühmter Diskjockey zu werden, und das gelingt ihm als Erwachsener relativ schnell. Discotheken sind auch in dieser Welt groß in Mode, nicht zuletzt da dort regelmäßig Firmen Werbeveranstaltungen organisieren, bei denen sie Gratis-Pipetten ihrer neuesten Traumhits verteilen. Sal erobert die Szene im Sturm. Über seinen ersten DJ-Abend im angesagtesten Club der Stadt schreibt Nesta:
„ nachher schien es, als habe Sal den Raum in einem einzigen flackernden Moment mit Musik erfüllt. Der Basslauf, ein Hihat, die Rimclicks und dann der Beat. Bässe so tief und frisch, als hätte er sie eben vom Meeresgrund geholt. ()
Es gibt DJs, die können deinen Hintern bewegen oder gar Wärme in dein Mark schicken. Aber Sal konnte die Strahlen der Sonne bündeln und über seine Hände auf den Plattenteller lenken, wo die Nadel sie aufnahm.“ [S. 38]
Bald schon wird Sal überall in der Welt auflegen und Nesta allein mit dessen unerfüllten Träumen zurücklassen. Nesta wohnt zu dieser Zeit in einem der „drei Hochhäuser“, einem ‚sozialen Brennpunkt’, wo all die Arbeitslosen, Aussteiger und unterprivilegierten ethnischen Minderheiten sich gegenseitig die Klinke in die Hand geben. Aber man bekommt hier auch immer die neuesten illegalen Träume und am Wochenende wird durchgefeiert. Nesta verdient sich sein kärgliches Einkommen als Kurierfahrer, als er endlich einen Hoffnungsschimmer am Horizont erkennt. Seine neue Freundin Rahel hat Beziehungen zu dem mysteriösen Mr. No - und der besitzt einen sogenannten „Rüssel“, mit dem man Demo-Tropfen herstellen kann. Nesta bekommt endlich einen (halben) Fuß in die Tür des Vorträumergeschäfts und tingelt fortan von Firma zu Firma, träumt immer wieder vor, in der Hoffnung, irgendwann als neues Talent entdeckt zu werden.
Eines Tages trifft er nach einem solchen Termin Tedeisha Swenson. Man kommt ins Gespräch, wirft zusammen die gleichen Traumtropfen ein und erkennt, dass etwas passiert, was eigentlich unmöglich sein sollte: Gekaufte Träume sind unveränderlich; jeder erlebt dieselbe Geschichte, und einzig kleine äußerliche Details können von Person zu Person unterschiedlich sein. Nesta und Tedeisha aber treffen sich in diesen Träumen, beeinflussen die Sichtweise des jeweils Anderen und verstehen dessen Gefühle. Tedeisha wird bald zu Nestas großer (platonischer) Liebe. Sie ist die einzige Frau, der er je emotional nahe kommt, ja die er lange zur Engelsfigur hochstilisiert. Seine ältere Freundin Rahel - die ihn aus dem Grunde zum Liebhaber genommen hatte, weil sie nach jahrelangem Drogenkonsum seltsamerweise in seiner Nähe wieder ‚normale’, ‚echte’ Träume träumen konnte - hat dagegen keine Chance: „Ich konnte mir schönere Sachen vorstellen, als neben ihr aufzuwachen. Ich konnte mir eine Frau vorstellen, die mir ein Gefühl von gleißendem Licht geben konnte, , ich konnte mir eine Erlösung vorstellen, eine von Sonnenlicht goldene Stadt voller Frieden.“
Dann wird auch Tedeisha entdeckt, als Vorträumerin berühmt und entschwindet in die Ferne. Nesta versinkt in seinen Träumen, tropft, was immer ihm in die Hände kommt, bis er endlich von einer weiteren mysteriösen Person gerettet wird: dem Schwarzen Elia, einem Mann, der seltsam in sich ruht und buchstäblich niemals schläft und niemals träumt. Nesta bildet mit ihm eine WG und kommt langsam wieder auf die Füße. Jahre später - Nesta ist mittlerweile Ende 20 - kommt Tedeisha zurück. Sie kann nicht mehr träumen. Könnte es doch noch ein Happyend mit ihr geben? Doch hier fängt das Buch erst richtig an.
Verunreinigte’ Träume grassieren mittlerweile auf dem Markt. Immer mehr Menschen wachen aus ihren Träumen nicht mehr auf, fallen in ein Koma. Unter ihnen ist Tedeisha, die irgendwann alles geschluckt und getropft hat, um wieder ihrem Beruf nachgehen zu können. Fast zufällig finden Nesta und Elia einen Weg in die andere Dimension, die Welt der Träume, und machen sich auf die beschwerliche Suche nach ihr.
Der deutsche Autor Selim Özdogan war mir persönlich vor der Lektüre dieses Buches kein Begriff. Er hat aber schon mehrere Titel veröffentlicht, darunter das Buch zum Film „Im Juli“ von Fatih Akin. „Zwischen zwei Träumen“ ist sein erster phantastischer Roman, ein Buch, das man, scheint mir, sowohl der Science Fiction als auch der Fantasy zurechnen kann. Einerseits zeigt Özdogan in seinem Roman kein Interesse daran, die Existenz mehrerer Welten und Dimensionen wissenschaftlich zu erklären - zu offensichtlich ist die alles andere überragende Bedeutung der Traum-Metapher für ihn -, andererseits ist der Erzählgestus völlig nüchtern. Nie hat man das Gefühl, hier werde gerade mit dem Zauberstab Magie gewirkt. Aus diesem Grunde scheint mir eine Etikettierung als Science Fiction zulässig. Auch Telepathie und Superhelden sind schließlich wissenschaftlich eher lächerlich, werden aber in der Genre-Literatur als rational nachvollziehbar verkauft.
Wichtig sind diese Überlegungen für das Buch selbst natürlich nicht. „Zwischen zwei Träumen“ ist ein von einem talentierten Autor kompetent geschriebener Roman, der mir stellenweise sehr gefallen hat, auch wenn mir keine Sätze von echter poetischer Schönheit in Erinnerung geblieben sind. Das Werk besitzt in Nesta einen lebensnahen Protagonisten und Ich-Erzähler, den viele Leser nicht gerade ins Herz schließen werden, weil er womöglich allzu sehr wie wir selbst ist. Nesta ist in Notsituationen fähig zu einer gewissen Portion Mut und Tapferkeit. Im Alltag ist er aber vor allem egozentrisch, larmoyant, ein Träumer und Hans-Guck-in-die-Luft, der nach Möglichkeit Entscheidungen auf die lange Bank schiebt, ein Mann mit geringem Selbstvertrauen, der manchmal sogar seine Beziehung zu Tedeisha selbst torpediert, weil er nicht glauben kann, dass sie wirklich einen ‚Loser’ wie ihn will. Und er ist ein Träumer, der immer bedroht ist, die Grenze zwischen Traum und Realität aus den Augen zu verlieren.
Andere Personen gewinnen neben Nesta in der Geschichte kaum deutliche Konturen, aber das lässt sich hinreichend mit der Grundkonstellation begründen: Nestas Welt dreht sich hauptsächlich um ihn selbst. Einfühlsamkeit ist nicht seine Stärke. Da kann es kaum verwundern, dass Tedeisha ein Engel ist (wenn Nesta sie nicht gerade als Messie verunglimpfen - und von sich stoßen - will). Seine Ex-Freundinnen bekommen nur dann einen starken Auftritt, wenn sie ihm ihre Meinung geigen und er als Ich-Erzähler ihre wörtliche Rede wiedergibt. Einzig Tedeishas blinder Vater sowie Elia bleiben dauerhaft in Erinnerung. Auch sie versteht Nesta nicht, aber er bewundert sie und diese Bewunderung teilt sich dem Leser eindrücklich mit.
Es ist, denke ich, klar geworden, dass ich einige Sympathie für diesen Roman empfinde. Trotzdem besitzt er in meinen Augen auch beträchtliche Schwächen. Die liegen zum Einen im Aufbau. Meine Inhaltsbeschreibung weiter oben deckt nur den ersten der drei Teile des Buches ab. Es folgen noch eine Art Orpheus-in-der-Unterwelt-Geschichte sowie eine Action-Story, in die Mr. No sowie Sal verwickelt sind, sodass die Handlung erst auf Seite 447 eine Art Endpunkt findet. Aber ob so viele Seiten wirklich nötig waren? In der erzählten Geschichte geht es (neben der Person des Nesta) häufig um die fast sexuelle Wirkung von Musik und (sehr häufig) um Sex selbst. Und es geht - Sie ahnen es schon - um Träume. Vor allem Letzteres kann einem zu aufmerksamer Lektüre gezwungenen Leser auf die Dauer auf die Nerven gehen. Wiederholt begegnet man Lehren wie "Verträum nicht dein Leben, sondern lebe deine eigenen Träume" oder "Das Leben kann nicht so perfekt wie ein Wunschtraum sein". Nicht, dass diese Lehren falsch wären, aber man hat sie halt schon oft gehört - und in diesem Roman findet man sie nicht ein oder zwei Mal, sondern immer und immer wieder.
Am Ende bleibt also ein etwas zwiespältiger Eindruck von einem talentierten Autor, der allzu breit eine eher unstrukturierte Geschichte erzählt. Trotzdem: Falls Selim Özdogan nochmals einen phantastischen Roman schreibt, bin ich wahrscheinlich wieder dabei.