Serie / Zyklus: Ambiente, Band 5 Besprechung / Rezension von Oliver Faulhaber |
Kennt man nur den Klappentext bekommt man den Eindruck eine Art Shadowrun vor sich zu haben, daher stutzt man zunächst nach den ersten paar Seiten: Man liest nämlich das Tagebuch der 12jährigen Lola, die im New York der nahen Zukunft lebt. Ihre Eltern besitzen eine geräumige Wohnung in einem guten Viertel, und sie und ihre kleine Schwester gehen beide auf eine der besten Privatschulen der Stadt. Alles scheint in Ordnung, doch - quasi in Nebensätzen - erkennt der Leser auch die andere Seite: Die Schwester benimmt sich manchmal, als habe sie zuviel "Itchy & Scratchy" gesehen, die Mutter ist immer öfter durch Beruhigungsmittel benebelt und der Vater versucht wieder und wieder erfolglos seine Drehbücher an den Mann zu bringen. Dagegen wirken für Lola die nationalen Probleme noch zu weit entfernt; immer öfter berichten die Nachrichten über Unruhen in den Großstädten und Soldaten ziehen ein, um die Bevölkerung zu 'schützen'.
Als Lolas Mutter entlassen wird und keinen Job mehr findet, und auch ihr Vater einsieht, daß an einen Verkauf seiner Drehbücher in der jetzigen Situation nicht zu denken ist, wird klar, daß sich an ihrem Lebensstil etwas ändern muß. Die finanzielle Situation wird von Tag zu Tag schlimmer, bis schließlich nur noch ein Umzug in eine ziemlich üble - aber billige - Gegend hilft. Auch wenn die Eltern sich selbst und ihren Kindern immer wieder einreden, daß sie nur eine Zeit lang in der neuen Wohnung bleiben wollen, weiß Lola tief in ihrem Inneren, daß sie nie mehr zurückkehren werden.
Schon bei ihrem Einzug beginnt sie das neue Viertel zu hassen. Nur bei ihren beiden 'besten Freundinnen', Lori und Katharine, findet sie noch Halt. Doch auch hier zeichnet sich eine tragische Wende ab, denn Lori wird in ein Umerziehungslager geschickt und Katherine, die scheinbar von ihrem Vater vergewaltigt wird, kapselt sich immer mehr ab. Zu allem Überfluß sagen sich auch noch alle anderen Freundinnen von Lola los, zum einen aufgrund ihrer 'Slum'-Wohnung und zum anderen wegen dem Gerücht, sie sei 'andersrum'.
So ist sie nun also alleine und einsam, bekommt auch immer mehr die rauhen Sitten der Stadt zu spüren ... als sie Iz und ihre Freundinnen kennenlernt; Mädchen aus der Unterschicht (zu der mittlerweile auch Lolas Familie gehört), die die Gesetze der Straßen kennen und wissen, wie man überlebt. Erst fällt Lola durch ihren Jargon und ihr Benehmen noch auf, aber im Laufe des Buches paßt sie sich immer mehr den anderen an, bis sie schließlich selbst eine von ihnen wird. Doch als Lolas familiäre Situation einen Grad erreicht, der sogar ihre Eltern zusammenbrechen läßt, und auch die Freundschaft zu Iz (der sie tiefe Liebe entgegenbringt, die jedoch - in dem Ausmaß - unerwidert bleibt) vor unlösbaren Problemen steht, führen ihre Konflikte und Gefühle zu einer Gewaltbereitschaft, die sogar die der Hartgesottensten übersteigt - und man ahnt, daß Lola verloren ist, daß die Geschichte unweigerlich ihrem tragischen Ende entgegenstrebt ...
Urteil: Es ist schon erschreckend, wie schnell ein intelligentes Mädchen (gerade in dem Alter, in dem die sexuelle Selbstfindung einen hohen Stellenwert besitzt, wie man an dem Verlauf der Geschichte sieht) aus seinem gesicherten Umfeld gerissen werden kann und die soziale Leiter bis ins Bodenlose absteigt. Vor allem hätte es vermieden werden können, wenn ihre Freundinnen wirkliche 'Freundinnen' gewesen wären oder wenn ihre Mutter nicht die Flucht nach hinten angetreten hätte ... aber so kam es, und auch wenn einige der Probleme nicht eingetreten wären, hätte es irgendwann doch den gleichen Lauf genommen.
Wie Womack im Interview sagt, stellt die Sprache einen der Hauptaspekte in seinen Büchern dar. Das sieht man an diesem Werk sehr deutlich, denn die Tagebucheinträge, anfangs in normalem Deutsch gehalten, bekommen nach und nach - als sie in einem anderen Milieu verkehrt - mehr Einflüsse des Slangs der Stadtsprache, bis dann am Ende nur noch ein Brei ohne viel Interpunktion und Grammtik übrigbleibt. Man kann Lola praktisch als Metapher auffassen, für das was mit New York passiert ist - nur im Zeitraffer, denn das ganze Buch erstreckt sich nur über knapp ein halbes Jahr. Wie Womack außerdem berichtet, ist der Übersetzer Karl Bruckmaier ein Freund von ihm, und er sei guter Hoffnung, daß auch die deutsche Ausgabe die von ihm erzielte Funktion der Sprache besitzt (was meiner Meinung nach gelungen ist).
Als Randbemerkung sollte ich (da es von Heyne wohl niemand für nötig hielt) noch erwähnen, daß das vorliegende Buch lose zu Womacks 'Dryco'-Zyklus gehört und die Anfänge der von ihm erschaffenen Welt schildert ... als Fazit läßt sich sagen, daß Zufällige Akte ... ein stilistisch und technisch wirklich gutes Buch ist, dem allein aufgrund des mich persönlich weniger ansprechenden Plots eine höhere Wertung verwehrt geblieben ist.
Bewertung: 6 von 10 Punkten
Eine Übersicht der Serie gibt es auf der Autorenseite.
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