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Titel: Wylders Hand Eine Besprechung / Rezension von Max Pechmann |
Joseph Sheridan Le Fanu war einer der meistgelesenen Autoren des 19. Jahrhunderts. Danach jedoch geriet der Autor in Vergessenheit. Besonders in Deutschland kennt man seinen Namen kaum, obwohl eine seiner Geschichten wohl viele schon einmal gelesen oder mindestens den Titel schon einmal gehört haben: Carmilla, der weibliche Vampir.
Seine Romane sind das, was man heute als Psychothriller bezeichnen würde. Übereifrige bezeichnen Le Fanu daher auch gerne als „Stephen King des 19. Jahrhunderts“. Wahrscheinlich aber sollte man doch eher King als den Le Fanu des 20./21. Jahrhunderts bezeichnen. Wie dem auch sei, seine Geschichten und Romane zeichnen sich durch eine dichte Atmosphäre und Spannung, eine Vielzahl an merkwürdigen Ereignissen und nicht zuletzt durch einen nicht zu verkennbaren Witz aus.
Zum ersten Mal auf Deutsch erscheint nun „Wylders Hand“. Darin geht es um den ehemaligen Anwalt Charles de Cresseron, der von seinem Freund Mark Wylder zu dessen Hochzeit nach Brandon Hall eingeladen wird. Kaum hat Charles dieses ehrwürdige Anwesen erreicht, als es auch schon zu Merkwürdigkeiten und seltsamen Zwischenfällen kommt. Das Verhalten der Familienangehörigen ist alles andere als viktorianisch. Ein jeder scheint auf Gepflogenheiten und Traditionen zu pfeifen. Zum anderen schleicht eine unheimliche Gestalt nachts durch Brandon Hall und den angrenzenden Wald. Schließlich verschwindet eines Tages Mark Wylder plötzlich spurlos, was jedoch einigen irgendwie zu passen scheint. Selbst seine Verlobte Dorcas scheint es ihm keineswegs böse zu nehmen. Allerdings gibt es da noch den verruchten Captain Lake, der von Tag zu Tag mehr in Panik gerät, je länger Mark verschwunden bleibt. Obwohl Charles de Cresseron nicht weiß, was hier vor sich geht, ahnt er, dass er es hier mit einem schrecklichen Geheimnis zu tun hat.
Le Fanus Roman liest sich wie ein moderner Thriller. Die Handlung schießt regelrecht voran, während die rätselhaften Ereignisse und damit die Spannung zunehmen. Die Figuren wirken dabei richtig lebendig, wobei sich ihr Verhalten für die damalige Zeit als geradezu skandalträchtig erweist. Überhaupt muss „Wylder’s Hand“ in seinem Erscheinungsjahr 1864 für viel Furore gesorgt haben (in der Tat zählt er zu seinen erfolgreichsten Romanen). Da ist die Rede von Treuebruch, lesbischen Beziehungen und last but not least erzwungenem Sex. Bram Stokers Anspielungen in „Dracula“ erscheinen da schon eher als eine Gutenachtgeschichte. Le Fanu blickt sozusagen hinter die sauberen Fassaden der englischen Oberschicht, nur um Schmutz, Verrohung und Niederträchtigkeit zu entdecken. Das Brechen von Tabus gibt dem Roman eine geradezu aktuelle Note. Die Spannung ist fast schon atemberaubend, sodass man nicht umhin kommt, den Roman in einem Zug durchzulesen. Heute würde man sagen, eine gute Mischung aus Thrill und Mystery. Vielleicht dachten das die damaligen Leser ja auch.