Titel: Winterkind Eine Rezension von Sandra / Buechernische (weitere Rezensionen von Sandra finden Sie auch auf ihrem Blog Buechernische - aus Liebe zum Buch) |
Schneeflocken tanzen vor den Glasscheiben, auf und nieder; eine Krähe steigt im fernen Wald auf, ihr folgt eine Zweite. Im Kamin knistert das wärmende Feuer leise vor sich hin. Aus der Glasfabrik auf der Anhöhe dringt das leise Fauchen der Maschinen ans Ohr. Das ist die Grundstimmung, die mir die ersten Seiten von Lilach Mers fabelhaftem Buch »Winterkind« vermittelten. Als ich den Klappentext las, ging ich von einem historischen Roman basierend auf dem Märchen der Gebrüder Grimm »Schneewittchen« aus, doch es ist viel mehr als das. Eine märchenhaft-spannende Lektüre, die mich unheimlich begeistern konnte, möchte ich euch jetzt vorstellen…
Niedersachsen, um 1880, im tiefen Winter.
Blanka von Rapp, Unternehmergattin und Mutter einer bezaubernden kleinen Tochter sollte eigentlich ein unbeschwertes, glückliches Leben führen. Sie ist mit Schönheit gesegnet, hat Familie, ein großes Haus mit Angestellten und an Geld mangelt es nicht. Als Blankas Mutter stirbt, kümmert sich ihr Ehemann um Beerdigung und Nachlass. Als er ins Hause Rapp zurückkehrt, bringt er einen riesigen alten Spiegel mit, dessen Anblick die junge Blanka aufs Tiefste verstört. Ein dunkler Schatten liegt über ihren Augen, Angst greift nach ihrem Herzen. Der Spiegel scheint nichts Gutes zu bedeuten. Der Börsenkrach greift mit fordernden Klauen nach Hab und Gut der Glasmanufaktur Rapp, die Arbeiter verlangen ungeduldig nach ihrem Lohn und Blankas kleine Tochter Johanna liegt fiebernd im Bett…
Göttlicher Schreibstil!
Lilach Mer hat eine faszinierende Art zu schreiben, ihr Stil zog mich förmlich in die Seiten hinein und ließ mich bis zum letzten Buchstaben nicht mehr los. Sie formt mit ihren Worten Bilder, beinahe zum Anfassen. Die düstere Stimmung, welche die Autorin in ihrem märchenhaften Buch vermittelt ist greifbar, tastbar. Würde ich die Augen schließen, befände ich mich mitten auf einem verschneiten Hügel,blicke auf den Turm der Glasmanufaktur in der Ferne, daneben etwas versetzt das herrschaftliche Herrenhaus mit seinen doppelflügligen Fenstern, die schwere Haustüre, auf deren Schwelle eine zarte Frauengestalt in die Ferne blickt, angsterfüllt, die Haare schwarz wie Ebenholz, der Mund kussrot wie Blut, die Haut so weiß wie Schnee. Die Ähnlichkeit zur Figur Schneewittchens aus dem berühmten Märchen der Gebrüder Grimm ist natürlich beabsichtigt, doch Lilach Mer erzählt kein Märchen neu. Sie hat einen spannenden Thriller mit historischem Hintergrund inmitten eines eisigen Winters im Niedersachsen des 19. Jahrhunderts geschrieben und das mit soviel Liebe zum Detail und Gespür für die Atmosphäre, dass mir immer noch Schauer den Rücken hinunterlaufen. Ich bin wahrlich kein Anhänger des historischen Genres, doch die Autorin hat mich mit ihrem Spannungswerk absolut und formvollendet überzeugt. Im Anhang erklärt sie noch ein wenig die historischen Hintergründe, die Recherchearbeit zum Roman. Das finde ich absolut gelungen, denn ich lese gerne, welche Gedanken sich die Autoren eines Buches gemacht haben, warum sie ihre Figuren auf diese oder jene Weise zeichneten, was sie inspirierte und woraus sie ihre Ideen schöpften. So etwas sollte man viel öfter in Büchern finden, abseits der üblichen Danksagungen und Kartenmaterials.
Ihr Blick streifte von dort über den Dielenboden, den Läufer, die unterste Kante des Spiegelrahmens. Dieses blasse, tropfenförmige Funkeln der Steine auf dem schwarzen Holz … Wie unzählige Augen, die sie beobachteten. Sie mochte den Gedanken nicht, wollt wegschauen, aber irgendetwas hielt ihren Blick dort fest. – Seite 104
Die Worte perlen, sie beschwingen das Kino im Kopf, sie verzaubern und sie lassen erstarren. Man muss sich auf das Buch einlassen, die Geschichte in sich aufnehmen und auch ein wenig in Stimmung sein. Es bot sich an, »Winterkind« im Januar zu lesen, als der Schnee draußen vor dem Fenster tanzte und die Welt in Weiß versank.
Authentisch recherchiert
Die Handlung ist in insgesamt sieben große Abschnitte eingeteilt, in deren Verlauf wir aus der auktorialen Erzählperspektive das Leben und Gedanken der zwei wichtigsten Figuren des Buches geschildert bekommen: Blanka von Rapp, traurige Schönheit und reiche Gattin sowie die Eindrücke ihrer Gouvernante Sophie, welche sich rührend um den Sprößling der Familie, die kleine Johanna kümmert. Das Kind hat ebenfalls einen wichtigen Part im Plot, doch darüber verrate ich nun natürlich nichts. Aufgelockert durch Rückblenden verfasst in Kursivschrift bewegen wir uns durch die Zeit der Reifröcke, straffgezogener Korsetts und einem Frauenbild, das einen harten unbarmherzigen Kontrast zur Gegenwart darstellt. Lilach Mer bringt hier wirklich sehr viel Authentizität rüber, zeichnet das Bild eines Lebens, welches bestimmt ist von Etiquette und strengen Gesellschaftsnormen gemäß ihrem Stand, die Frau als gehorsame Ehefrau auf der einen Seite und als beinahe Rechtlose auf der anderen Seite. Ich kann mir nach dem Lesen des Buches gut vorstellen, dass gerade für Frauen, die nicht aus reichem Hause kamen, das Leben nicht einfach war. Sie zogen als Gouvernanten von Familie zu Familie, von Haus zu Haus, ohne Halt, ohne die Aussicht auf Bildung und Ehemann.
Außerordentlich gut gelungen empfand ich die Dialoge in »Winterkind«. Man spürte deutlich die gesellschaftliche Kluft, denn während sich die Herrschaften in vornehmem Tonfall unterhielten, respekteinflößend und auch das Kind seine eigene Mutter mit höflichem “Sie” ansprach, so verschliff ein Arbeiter der Manufaktur schon mal ein paar Worte, spuckte in den Schnee und wischte sich den Mund am Ärmel ab. Die Autorin hat sich sehr eingehend damit beschäftigt, ihre Charaktere lebendig zu beschreiben, was ihr meines Erachtens nach sehr gut gelungen ist.
Es gab kein Zurück, für niemanden. Das Grab hatte alles verschluckt, was vielleicht gewesen war, hätte sein können – ein feuchtes, gieriges schwarzes Maul, das keine Antworten hatte. Und niemand, der ihr wenigstens davon berichten wollte. Die letzte Verbindung zerrissen – die letzte … – Seite 51
Subtiles Gruseln mit Märchencharakter
Was mir richtig gut gefiel war der Fakt, dass der Spiegel nicht disney-like zu sprechen begann oder aus großen Augen auf die Protagonistin einsprach. Der Gruselfaktor bleibt subtil, er ist spürbar und allerorts vorhanden, legt sich wie ein dichter schwarzer Schleier über das Herrenhaus und greift mit dunklen, düsteren Wogen in das Leben der Familie ein; als ob die Präsenz des Möbelstücks das Leben der von Rapps beeinflussen würde, gar vergiften würde. Symbolik spielt hier eine große Rolle: der Spiegel, ein roter Apfel.Schneewittchen-Artefakte, welche die Autorin geschickt und überraschend in die Handlung einwebt. Gedanken, welche im Kopf der Protagonistin geistern, werden ebenfalls kursiv dargestellt.
Etwas wie Wellen schien einen Herzschlag lang über ihr Spiegelbild zu laufen. Ihr Atem stockte. Bevor sie verstand, was geschah, rollte die Erinnerung aus den Tiefen des Spiegels heran, überspülte sie wie eine kalte Meereswoge. Zog sie mit sich in die Tiefen, wo die Stimme schon auf die wartete. Die kühle, grausame Stimme. Sie konnte ihr nicht entkommen. Nicht einmal jetzt. – Seite 176
Ich habe mitgerätselt, erschauerte ob der teilweise sehr gruseligen Stimmung, welche mir die Zeilen vermittelten. Ich genoss den intensiven, eloquenten Schreibstil und klappte das Buch mit einem rundherum zufriedenen und gut unterhaltenen Gefühl zu. Ein paar Seiten mehr hätten dem Buch ganz gut getan, taten der Begeisterung aber keinen Abbruch. Ich freue mich schon auf das nächste Buch Lilach Mers, das ebenfalls im Dryas Verlag in der Reihe »Die Grüne Fee« erscheinen wird.
Mein Fazit: Ein märchenhaft, subtiler Thriller, der überrascht und verzaubert, mit sich reißt und bis zum letzten Wort nicht mehr loslässt! Nicht nur für Freunde von Märchen und Historik ein wahres Vergnügen, sondern für all jene, die sich vor einer winterlichen Kulisse mit märchenhaftem Hintergrund gut unterhalten lassen wollen! Chapeau liebe Lilach, du hast einen neuen Fan!