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Serie / Zyklus: ~ Titel: Wenn der Schläfer erwacht Originaltitel: When the Sleeper Wakes (1899) Autor: H. G. Wells Übersetzer: Ida Koch-Loepringen Verlag / Buchdaten: DTV Eine Besprechung / Rezension von Rupert Schwarz |
Ende des 19. Jahrhunderts fällt Graham nach langer Schlaflosigkeit in einen komaartigen Tiefschlaf. Als er nach 200 Jahren erwacht, findet er sich in einer vollkommen fremden Welt wieder. Doch die größte Überraschung ist die Tatsache, dass ihm inzwischen mehr als die halbe Erde gehört. Großkonzerne haben ihm, dem Schläfer, im 20. Jahrhundert ganze Firmenimperien vermacht, da der berühmte Schläfer nie aufwachen würde (nach einigen Jahrzehnten des Schlafens war mit einem Aufwachen nicht mehr zu rechnen). Auf diese Weise wurde die Machtausübung dem Staat entzogen und im Laufe der Zeit entstand ein unvergleichliches Wirtschaftsimperium. Die Verwalter von Grahams Vermögen sind nun de facto die Herren der Erde, und als der Schläfer erwacht, sind die Oligarchen selbstverständlich alles andere als begeistert. Just in diesem Moment beginnt der Arbeiterführer Ostrog mit seiner Revolution. Graham wird als Leitfigur missbraucht, denn auch dem Revolutionär geht es nur um Macht und nicht um die Lebensumstände eines unterdrückten Volkes.
Der Roman wurde um 1910 nochmals überarbeitet, ist aber dennoch inzwischen 100 Jahre alt. Dies macht das Werk vor allem dahingehend interessant, dass es einem den Blick von Beginn des 20. Jahrhunderts in eine weite Zukunft gewährte. So überrascht es nicht besonders, wenn man von gigantischen Doppeldecker-Flugzeugen mit 200 m Spannweite liest. So etwas dürfte jeden Ingenieur Schweiß auf die Stirn zaubern. Andere Dinge hat Wells mit einer fast prophetischen Gabe vorhergesagt, wenn er z. B. sogenannte Schwallmaschinen beschrieb, die ein Mittelding zwischen einem Fernseher und einem Internetcomputer darstellen. Großartig. Auch die gesellschaftlichen Entwicklungen hat er in mancherlei Hinsicht sehr genau vorausgesagt. Man kennt das Bild der übermächtigen Konzerne aus der Science Fiction - vor allem aus dem Cyberpunk -, aber Wells bietet hier die Mutter aller Großkonzerne. Ein wenig hört man auch Karl Marx heraus, wenn der Autor vom Aufstand der Massen schreibt. Und wenn von der Sinnentleertheit der Sprache und der Revolution des Proletariats die Rede ist, fühlt man sich an die deprimierende Sichtweise eines George Orwell erinnert.
Insgesamt ist „Wenn der Schläfer erwacht“ ein vor allem zeithistorisch interessanter Roman, der gerade wegen der Extrapolation der Zukunft ein Dokument seiner Zeit ist. Die Geschichte selbst ist nur Beiwerk, die die Grundlage für die wellsschen Visionen bietet. Andererseits ist dieses Buch auch einer jener Grundsteine, die das Fundament der modernen SF bilden. Schon alleine aus diesem Grunde lohnt es sich für den Genrekenner, das Buch zu lesen. 7 von 10 Punkten.