Titel: Weisser Schrecken Eine Besprechung / Rezension von Erik Schreiber |
Das Berchtesgardener Land mit dem kleinen Ort Perchtal ist verschneit, als ein blonder Engel mit gebrochenem Flügel, vor Angst und Kälte zitternd, durch Schneetreiben und Wald flieht. Der Weg ist lang und gefährlich, und es bleibt keine Zeit innezuhalten, denn er ist hinter ihm her. Er, der Unhold, ein Monster, lebend und gierig auf der Jagd nach einem blonden Jüngling, einem Engel, nichts anderes mehr als nur ein Opfer. Der Verfolger mit Rute und Sack ist niemand anderes als der Knecht Ruprecht. Es ist nicht der echte Knecht Ruprecht, denn den Mann mit dem Sack nennt man auch ... den Kinderfresser!
Der Traditionslauf, genannt Krampuslauf, ein alter Brauch aus der Zeit, da sich heidnische und christliche Traditionen mischten, steht bevor. Am Nikolaustag geschieht Ungeheures. In eingeschneiter Landschaft und fern der Außenwelt geschehen merkwürdige Dinge. Inmitten eines heftigen Winters müssen die Jugendlichen Andreas, Robert, Niklas sowie die fünfzehnjährigen Zwillinge Elke und Miriam sich mit dem Tode einer Jugendlichen ihres Alters auseinandersetzen. Nach einem heftigen Streit darüber, wer am Krampuslauf mitmachen darf, sollen sich die Freunde mit ihren Gegnern, der Dorfclique, im sportlichen Wettstreit messen. Aus dieser Idee des Vertrauenslehrers wird nichts, weil sich unter dem Eis, auf dem das Eishockeyduell ausgetragen werden soll, eine weibliche Leiche befindet. Das tote Mädchen, von Elke gefunden, sieht aus wie sie und Miriam. Ein Schock für Elke. Die Jugendlichen werden schnell von der Leiche ferngehalten, aus Fürsorge, dass sie sich noch weiter aufregen könnten. Doch scheinbar weiß der ganze Ort über den Mord Bescheid und kennt auch den Mörder. Doch alle hüllen sich in Schweigen. Die weihnachtliche Stimmung ist dahin. Die Erwachsenen erinnern sich an einen ähnlichen Vorfall aus dem Jahr 1978. Alte Wunden brechen auf, als sich die Freunde daranmachen, das mysteriöse Geheimnis zu lüften und den Mord aufzuklären. Vor allem stellt sich die Frage: Warum sah das tote Mädchen den Zwillingen so ähnlich?
Der Ort wird zu einem Hort des Grauens, Spuren im Schnee werden gefunden, die plötzlich enden, geheimnisvolle Drohungen werden auf Fensterscheiben hinterlassen und anderes mehr. Kurzum, wäre die vorweihnachtliche Freude nicht bereits gebrochen, sie wäre nun endgültig dahin. Eine weitere Frage stellt sich, weil Pfarrer Strobel sich äußerst merkwürdig verhält und unbedingt in der Nikolausnacht mit den fünf Freunden eine Nachtwanderung unternehmen will. Was steckt dahinter? Den fünf Freunden lassen die seltsamen Vorkommnisse keine Ruhe. Sie beginnen auf eigene Faust Ermittlungen anzustellen. Immer mehr kristallisiert sich heraus, dass eine Verbindung mit Sankt Nikolaus von Myra besteht. Ebenso mit dem Krampuslauf und den Eltern. Sie fragen sich natürlich, wo die Verbindung besteht.
Das erfundene kleine Dorf, abgeschottet von der Außenwelt durch einen furchtbaren Schneesturm, stellt sich schnell als stimmungsvolles Szenario dar. Es gibt sehr viele ähnliche Situationen in der phantastischen Literatur, etwa als Robert E. Howards Conan sich in einem abgelegenen Ort mit Werwölfen herumärgern muss, oder Ju Honisch in ihrem Das Obsidianherz ein ganzes Hotel magisch abschottet. Die Abgeschiedenheit der verschneiten Ortschaft sorgt jedenfalls dafür, dass dem Autor keine Störung von außerhalb in die Quere kommt. Weder Hilfe für die Ortschaft noch störende Touristen oder Ähnliches mehr.
Thomas Finn beschreibt eine Gruppe Jugendlicher, die in den alpin-heidnischen Bräuchen, den christlichen Traditionen und der Fassade gutbürgerlichen und intakten Familienlebens gefangen sind. Die sorgsam aufgebaute Fassade der Freundlichkeit und Höflichkeit bricht jedoch in dem Moment zusammen, als der Autor näher auf die einzelnen Jugendlichen eingeht. Allmählich wird klar, dass alle Jugendlichen aus mehr oder weniger zerrütteten Familien stammen. Die Zwillinge Miriam und Elke leiden unter ihren fundamentalistisch-christlichen Eltern, Bäckerssohn Niklas wird von seiner überfürsorglichen Mutter mit nahezu aufdringlicher Liebe und Speisen gemästet, Roberts allein erziehende Mutter nimmt ihre Lebensberatung in Form von Alkohol zu sich und die Mutter von Andreas beging Selbstmord. Der Leser erfährt in den ersten Kapiteln viel über die Familienverhältnisse, gleichzeitig auch über die vielschichtig dargestellten Charaktere. Allerdings bin ich der Meinung, dass hier zu viele Problemfamilien auf einmal auftreten. Wo ist die heile Bergwelt geblieben, wie man sie sonst meist präsentiert bekommt?
Ein Dorf wurde lebendig in einer eigenen kleinen Welt, die dem Leser vertraut vorkommt. Die handelnden Personen sind in ihrer Ausrichtung, ob Gut oder Böse, nicht immer sofort und klar erkennbar. Thomas Finn baut feinfühlig, fast filigran den Schauder auf, der dem Leser eine Gänsehaut erzeugt. Er legt gekonnt falsche Fährten und erhält damit den Ausgang der Erzählung betreffend die Spannung. Eine mysteriöse Erzählung, die doch zunächst in so trügerisch freundlicher Stimmung begann …
Weißer Schrecken ist ein fesselnder, außergewöhnlicher und spannender Mystery-Thriller, der mehr als ein Abenteuerroman ist. Thomas Finn zeichnet einfühlsam das umfassende Bild einer Dorfgemeinschaft - fast ein Sittengemälde -, deren Schicksal sich alle paar Jahre wiederholt. Geschickt verbindet er alte Legenden, die in unserem heutigen, angepassten Brauchtum ihren Niederschlag finden. So ist die Erzählung nicht nur spannender Nervenkitzel, sondern auch ein Ausflug in die moderne Geschichtsforschung um St. Nikolaus von Myra, die Kinderbischöfe und das Brauchtum des Perchtenlaufes.
Einmal mehr zeigt der Autor seine schriftstellerische Vielfalt. Und einmal mehr stellt sich mir die Frage, warum wird um verschiedene Autoren so viel Aufhebens gemacht und warum bleiben Autoren wie Thomas Finn von der großen Masse weiterhin unentdeckt?
Weißer Schrecken - die Rezension von Nadine Dannenmann