| Serie / Zyklus: ~ Eine Besprechung / Rezension von Andreas Nordiek |
Oliver Henkel ist durch seine beiden Romane "Die Zeitmaschine Karls des Großen" und "Kaisertag", für die er jeweils mit dem Deutschen Science Fiction Preis ausgezeichnet wurde, quasi über Nacht bekannt geworden. Der in Lübeck geborene und dort immer noch wohnende Autor konnte mit seinen beiden Alternativweltromanen somit zwei großartige Erfolge feiern und legt mit "Wechselwelten" nun eine Kurzgeschichtensammlung vor. Diese trägt den Untertitel "Sieben Ausflüge in Welten, die vielleicht beinahe existiert hätten" und deutet schon auf den Inhalt dieser hin.
Oliver Henkel ist seiner Liebe zu Alternativweltgeschichten treu geblieben. Alle sieben Kurzgeschichten, die vom Umfang sehr unterschiedlich sind, spielen in Welten oder beschreiben Begebenheiten, die es so nie gegeben hat, die aber so vorstellbar wären.
Die ersten vier Geschichten sind relativ kurz. "Ein neunter Oktober" zeigt, was gewesen wäre, wenn bei den Montagsdemonstrationen in Leipzig im Jahre 1989 die Polizei doch mit Gewalt eingegriffen hätte.
In "Der Adler ist gelandet" spekuliert Henkel darüber, was passiert wäre, wenn Columbus seine Idee der Westüberquerung des Ozeans, um nach Indien zu gelangen, nicht der Katholischen Majestät, sondern einem Lübecker Kaufmann präsentiert hätte. Dann wäre Amerika von der Hanse in Beschlag genommen worden.
"...auf daß er die Menschen erlöse" beleuchtet die letzten Stunden Jesu, die völlig konträr zu den Ereignissen verlaufen, wie wir sie kennen. Jesus wird zwar verraten durch Judas Ischariot, aber dessen Gewissen wird nicht durch dreißig silberne Tetradrachmen beruhigt, und so versucht Judas seinen Verrat wiedergutzumachen. Diese Story erschien übrigens bereits in dem TERRAsse-Sonderheft zum Penta-Con 2003 und wurde für diese Ausgabe nur ein wenig überarbeitet.
In "Kalifornia Dreaming" erreicht Walt Disney in den 50er Jahren auch ein Fanbrief aus dem nationalsozialistischen Großdeutschland.
Die erste längere Geschichte ist "Mr. Lincoln fährt nach Friedrichsburg". Eine Mischung aus Fiction und geschichtlichen Fakten bietet Henkel seinen Lesern in dieser Geschichte, die Abraham Lincoln in Ausübung seiner Tätigkeit als Anwalt zeigt. Bevor Lincoln Präsident wurde, war er als Rechtsanwalt tätig und vertrat des Öfteren die Interessen entflohener Sklaven, die von ihren Besitzern zurückgefordert wurden. Fiktion hingegen ist, dass South Carolina eine preußische Provinz ist und Charleston Friedrichsburg heißt. In einer Anmerkung zu dieser Story deutet Henkel an, dass er dieses Szenario vielleicht nochmal in einer längeren Erzählform aufgreifen wird.
"Die Unsterblichkeit des Harold Strait" ist eine Zeitreise-Story, in der ein junger Student, der sich für Zeitreiseexperimente zur Verfügung gestellt hat, sich auf spektakuläre Weise verewigen möchte, um die Aufmerksamkeit seiner Angebeteten zu erreichen. Hierbei kommt ihm die Idee, in der Vergangenheit etwas Spektakuläres zu unternehmen, dessen Auswirkungen auch nach Jahrtausenden mit seinem Namen in Verbindung gebracht werden können. Für ihn ein völlig risikoloses Unterfangen, denn sein auf die Reise geschickter Geist kehrt spätestens nach einigen Stunden in die Gegenwart zurück. Nicht einkalkulieren konnte er hingegen die Beharrungskräfte der Zeit, die ein solches Treiben zu unterbinden verstehen.
Zeitreisegeschichten müssen immer bestimmte Fragekomplexe zu beantworten versuchen, was vielen Autoren nicht schlüssig gelingt. Oliver Henkel behilft sich hier mit den Beharrungskräften der Zeit, d. h. große Veränderungen des Geschichtsablaufs sind gar nicht möglich. Die Zeit an sich scheint solche Manipulationen nicht zuzulassen und beweist damit eine gewisse "Festigkeit".
Die letzte Geschichte beleuchtet dann die Frage, was geschehen wäre, wenn Alexander der Große nicht an seiner schweren Krankheit gestorben wäre, sondern diese überlebt und dann seinen Eroberer-Blick gen Westen gerichtet hätte.
Allen Kurzgeschichten ist gemein, dass sie sich an historischen Begebenheiten orientieren - mal mehr, mal weniger - und Oliver Henkel daraus seine Geschichte erzählt. Kleine Aufhänger können dabei eine große Wirkung (wie in der letzten Story) oder auch gar keine (wie in "Die Unsterblichkeit des Harold Strait") haben. Lesen sich die kürzeren Werke noch wie Fingerübungen, so können vor allem die längeren Texte überzeugen, da sich hier die Figuren weitaus mehr entfalten können und Henkel über genügend Raum verfügt, um den geschichtlichen Hintergrund detailreich darzustellen. So sind "Mr. Lincoln fährt nach Friedrichsburg" und "Die Unsterblichkeit des Harold Strait" für mich die beiden lesenswertesten Kurzgeschichten dieser Sammlung. Während die erste über einen stimmig in Szene gesetzten Hintergrund und einen überschaubaren Handlungsrahmen verfügt, in dem es Henkel gelingt, eine erzählerische Atmosphäre zu schaffen, die auch am Ende der Lektüre aller Geschichten einem noch im Gedächtnis haften bleiben, sprach mich die zweite durch ihren SF-Hintergrund an.
Gerade die längeren Werke zeigen, über welches schriftstellerische Potential Oliver Henkel verfügt und dass er dies auch auf kürzere Erzählformen übertragen kann. "Wechselwelten" macht Appetit auf einen neuen Roman.