Serie: ~ Eine Besprechung / Rezension von Rainer Skupsch |
Der typische Alternativweltroman stellt die Frage "Was wäre passiert, wenn der Verlauf der Geschichte zu einem bestimmten Zeitpunkt eine andere Richtung eingeschlagen hätte?" und macht sich anschließend daran, diese neue Welt im Einzelnen zu beschreiben. Auf den ersten Blick entspricht auch Christopher Priests bisher letzter Roman, The Separation, diesem Schema. Er erzählt, wie an einem bestimmten Schlüsseltag, nämlich dem 10. Mai 1941, bestimmte Ereignisse den Fortgang des Zweiten Weltkriegs nachhaltig auf verschiedenste Weise beeinflussten. In der Welt, die wir kennen, flog an diesem Tage ein Mann, der behauptete, der stellvertretende Reichsführer Rudolf Hess zu sein, nach Schottland und versuchte vergeblich, die britische Führung davon zu überzeugen, dass Deutschland einen baldigen Friedensschluss mit dem Vereinigten Königreich anstrebe. Bekanntlich ignorierte die Churchill-Regierung das Angebot. Der Weltkrieg ging weiter und endete in Europa erst im Mai 1945.
Ein Ziel, das Christopher Priest nun mit seinem Roman verfolgt, ist es, ein Szenario zu beschreiben, durch das ein jahrelanger Bombenkrieg vermieden wurde. Allerdings geht es dem Autor nur sehr bedingt um die Welt, die durch solch einen alternativen Kriegsverlauf entstanden wäre. Diese wird bestenfalls in groben Umrissen skizziert. Christopher Priest befasst sich hauptsächlich mit der Zeit vor jenem ominösen 10. Mai, und wer andere Bücher des Autors kennt, den wird es nicht verwundern, dass seine Geschichte auch hier wieder mit Puzzleteilen jongliert, die der Leser im Verlaufe der Handlung selbst zusammenlegen muss. - Oder auch nicht. Priest erzählt unchronologisch und aus verschiedenen Perspektiven von dem Jahr vor dem alles entscheidenden Datum. Man kann bei der Lektüre zu dem Schluss kommen, dass der Autor letztlich Ereignisse aus mindestens vier oder fünf Universen zu einer Collage zusammenstellt. Oder man folgt einem Amazon-Leser, der genervt meinte, dies sei doch gar kein Science-Fiction-Roman; in diesem Buch gehe es über weite Strecken um die wirren Phantasien eines Mannes, dem eine Gehirnerschütterung die Sinne verwirrt hat. Wie auch immer man diese Frage entscheidet: Es bleibt der Eindruck, dass hier ein Schriftsteller vorführt, wie kleine Ereignisse und fast zufällige Entscheidungen das Leben des Einzelnen und den Lauf der Geschichte beeinflussen; wie Menschen oft das Leben mindestens so sehr zustößt wie sie es selbst lenken. Priests wichtigste Spielfiguren in dieser Versuchsanordnung sind dabei die eineiigen Zwillingsbrüder Jack und Joe Sawyer, deren Lebensweg sich nach den Olympischen Spielen 1936 in Berlin so grundlegend ändert, dass einer von ihnen, Jack, im Krieg schließlich als Bomberpilot dient, während der andere, Joe, den Kriegsdienst verweigert und als Ambulanzfahrer für das Rote Kreuz arbeitet.
Das Buch beginnt jedoch mit einer Rahmenhandlung im Jahre 1999: Stuart Gratton, einem Autor populärer Geschichtswerke, werden während einer Buchsignierstunde von einer Mrs Angela Chipperton die handschriftlichen Memoiren ihres verstorbenen Vaters überreicht, bei dem es sich offenbar um Jack Sawyer handelt. Gratton kommt die Frau seltsam bekannt vor. Als er jedoch zu einem späteren Zeitpunkt erneut mit ihr in Kontakt treten will, muss er feststellen, dass sich keine Spuren ihrer Existenz finden lassen. Der Leser erfährt im Übrigen in diesem Auftaktkapitel, dass Stuart Gratton in einer Welt lebt, in der Hess' Flug nach Schottland Britannien den Frieden brachte. In der Folge verausgabten sich Nazi-Deutschland sowie die USA bei ihren Bemühungen, den Kommunismus auszurotten, in langen Kriegen mit der Sowjetunion, Japan und China, so dass gegen Ende des Jahrtausends die Briten weiter eine Weltmacht sind und das erschöpfte Deutschland Teil der EU ist.
Es schließen sich die Memoiren Jack Sawyers an, die im Folgenden ständig zwischen 1936 und der Zeit ab 1940 hin und her wechseln: 1936 nimmt Jack mit seinem Bruder als Ruderer an den Olympischen Spielen teil. In Berlin wohnen die Zwillinge während der Wettkämpfe bei der jüdischen Familie Sattmann, Freunden der Mutter, die eine geborene Deutsche ist. Jack verliebt sich auf den ersten Blick in die Tochter seiner Gastgeber, Birgit, unternimmt aber nichts. In Berlin treten die Unterschiede zwischen den Brüdern zu Tage, die das gemeinsame sportliche Ziel bisher überdeckt hat. Joe ist von den Verhältnissen im Reich angewidert, während der politisch uninteressierte Jack, der bisher nur für seine Leidenschaften (Rudern und Fliegen) gelebt hat, auch hier passiv reagiert. Nach dem Endkampf will Joe unmittelbar abreisen. Jack jedoch fühlt sich verpflichtet, am Abend noch an einem Empfang in der britischen Botschaft teilzunehmen. Dort wird Jack von Rudolf Hess angesprochen, der ohne Umstände versucht, ihn abzuschleppen. Dieser Gefahr entgeht Jack knapp. Er eilt zurück zu Joe und dem beladenen gemeinsamen Auto. Die Zwillinge verlassen umgehend die Stadt. Unterwegs erfährt Jack endlich den Grund für ihren überstürzten Aufbruch: Joe hat unter ihrer Ausrüstung Birgit versteckt, die er aus dem Land schmuggeln will. Das Unternehmen gelingt. Nach seiner Heimkehr nach England wird Jack klar, dass er Teil eines lange von den Famiilien Sawyer und Sattmann eingefädelten Planes war, in den alle eingeweiht waren - außer er selbst. Wenige Monate später heiraten Joe und Birgit. Die Rudergemeinschaft zerbricht. Jack geht nach seinem Uni-Abschluss zur Royal Air Force.
Spätestens zu Weihnachten 1939 zerstreiten sich die beiden Brüder vollends, über Sinn und Unsinn des Kriegsdienstes. Im Sommer 1940 dann meldet sich Birgit brieflich bei Jack: Joe ist als Ambulanzfahrer nach London versetzt worden. Dadurch ist sie in ihrem Dorf bei Manchesterals geborene Deutsche den Anfeindungen der Einheimischen ausgesetzt und in ständiger Gefahr, interniert zu werden. Jack erklärt sich bereit, sie, wann immer er kann, zu besuchen und vor den Dorfbewohnern die Rolle des Ehemannes zu spielen. Es kommt, wie es kommen muss. Zwischen den beiden entwickelt sich eine Liebesbeziehung. Diese endet abrupt, als im November Joe bei einem Bombenangriff in London ums Leben kommt und sich die beiden Verliebten aus Scham über ihren Verrat voneinander abkapseln.
Dann kommt der 10. Mai 1941: Auf dem Flug mit ihrem Wellington-Bomber nach Hamburg beobachten Jack und seine Crew zweimal kurz hintereinander, wie deutsche Messerschmitt-109-Jagdbomber eine einzelne Messerschmitt-110 verfolgen. Einmal wird die Maschine abgeschossen, einmal kann sie in den Wolken entkommen. Dann, über Hamburg, erhält Jacks Maschine einen Flak-Treffer. Schwer beschädigt schafft die Wellington noch den halben Heimflug, dann schmiert sie über der Nordsee ab. Buchstäblich irgendwie schaffen es Jack und sein Bordnavigator Sam Levy, sich in ein Dinghy zu retten. Nach langen Stunden auf See werden sie endlich von den Suchkräften gefunden.
Nach seiner Genesung kommt für Jack die Stunde, in der er in die Weltgeschichte eingreift. Im Auftrag der Regierung befragt er tagelang einen Kriegsgefangenen, der vorgibt, Rudolf Hess zu sein. Jack macht sich seine Aufgabe nicht einfach - und schreibt schließlich in seinem Bericht, der betreffende Mann sei eindeutig ein Doppelgänger. Anschließend kehrt er zur RAF zurück. 1942 wird er über Stuttgart abgeschossen und verbringt die Zeit bis 1945 in einem Kriegsgefangenenlager in Wittenberge. Während dieser Zeit bekommt er noch einmal einen Brief von Birgit, in dem sie ihm mitteilt, dass sie mittlerweile erneut geheiratet hat. Jack beschließt, ein neues Leben anzufangen und wandert nach Australien aus. Vorher besucht er aber noch einmal die Orte, die ihm in England etwas bedeutet haben. Dabei sieht er Birgit vor ihrem Haus, mit ihrem neuen Mann - und einem kleinen Mädchen, Angela, seiner eigenen Tochter.
Nach der Lektüre der Memoiren gelingt es Stuart Gratton, Jacks Crewmitglied Sam Levy aufzustöbern, der mittlerweile in der jüdischen Republik Masada auf Madagaskar lebt. Nach dem Friedensschluss 1941 half Levy bei der Luftbrücke der RAF, die Millionen Juden aus dem Deutschen Reich umsiedelte. Levy erzählt seine eigene Geschichte des Bomberfluges nach Hamburg, die sich in zahlreichen Details von der ersten Version unterscheidet, vor allem dem, dass Jack den Absturz nicht überlebte. Außerdem besorgt Levy Gratton zahlreiche Tagebuchaufzeichnungen von Joe Sawyer, die er, wie der Leser erfährt, in einem französischen Museum bzw. der Bibliothek der Universität Manchester aufgetrieben hat. Dieses Tagebuch nimmt den größten Teil der zweiten Buchhälfte ein. Es wird jedoch immer wieder unterbrochen von verschiedenartigen Texten, unter anderem Zitaten aus Sachbüchern, Regierungsprotokollen, Reden Winston Churchills, Aufzeichnungen von Joseph Goebbels, Liebesbriefen von Birgit an Jack und und und.
Hauptsächlich jedoch erzählt dieser Teil des Romans eine ganz andere Fassung der Geschehnisse zwischen November 1940 und Mai 1941. Laut Joes Tagebuch starb er nicht bei dem Londoner Bombenangriff, sondern erlitt nur eine Gehirnerschütterung, die ihn mehrere Tage ohne Erinnerung durch London irren ließ. Danach wurde er mit einem Krankenwagen nach Manchester gebracht und konnte zu seiner Frau zurückkehren. Als zweisprachiger Pazifist wird Joe vom Roten Kreuz später in eine geheime Verhandlungsgruppe entsandt. Deren Arbeit (mit Joe als leitendem Übersetzer) führt schließlich am 10. Mai in Schweden zur Unterzeichnung eines Friedensvertrags durch Winston Churchill und Rudolf Hess (der zuvor über der Nordsee einem Anschlag Goerings entging). In der Folgezeit entfernt Hess Hitler aus dem Amt und wird selbst Reichskanzler. Deutschland zieht sich aus West- und Südeuropa zurück und kann sich dafür ganz auf den Präventivkrieg gegen Sowjet-Russland konzentrieren.
Joe kann nun endgültig nach Hause zurückkehren, zu seiner Frau und ... dem neugeborenen Sohn Stuart. Aber stimmt das wirklich? Zahlreiche Details dessen, was Joe uns erzählt, stimmen hinten und vorn nicht mit dem überein, was wir bisher gelesen haben. Was macht Hess in Schweden? Warum überlebt Jack in Joes Tagebuch seinen Crash über der Nordsee? Warum behauptet Sam Levy das Gegenteil? Warum hat Joe regelmäßig Halluzinationen, die ihn Szenen mehrmals erleben lassen? Und, wenn man einmal die Rahmenhandlung mit einschließt: Warum kann Stuart Gratton Memoiren lesen, die einen ganz anderen Geschichtsverlauf beschreiben? Und wie kann es geschehen, dass er, Stuart, gleich am Romananfang Angela begegnet? Fragen über Fragen (und es gäbe noch mehr!), auf die die einfachste Antwort tatsächlich die des oben schon erwähnten Amazon-Kritikers wäre. Wenn man sich, wie ich, zur Vorbereitung auf eine Rezension gewöhnlich durchliest, was andere Menschen in ihren Kritiken bereits geschrieben haben, fällt auf, dass es allerdings auch beträchtlich komplexere Erklärungsversuche für dieses riesige Geschichtspuzzle gibt.
Wenn man das Buch liest, fallen die allgegenwärtigen Dualismen ins Auge. Es gibt zwei Protagonisten, die zwei Nationen angehören. Diese zwei Nationen sind sich so ähnlich und doch so fern. Es gibt zweimal Rudolf Hess, zweimal Winston Churchill (ein Double fährt regelmäßig durch zerbombte Viertel Londons und hält Durchhaltereden), zwei mögliche Kinder - und Szenen, die sich zweimal ereignen.
Es ist offensichtlich, dass Priest auf der politischen Ebene die Frage diskutiert, ob der Bombenkrieg auf Großstädte moralisch zu rechtfertigen ist (Antwort: nein). Außerdem stellt er den uns bekannten Verlauf der Geschichte neben eine Alternative, in der der Pazifismus einen Schauplatz des Krieges vier Jahre früher befriedete. Ob Priests zweite Version der Ereignisse realistisch ist, darüber lässt sich trefflich streiten. Dass Hess Hitler beseitigte und den Juden die Auswanderung erlaubte, ist vielleicht schönfärberisch. Zumindest leugnet der Roman aber nicht die Leiden, die Osteuropa zu diesem Zeitpunkt noch bevorstanden.
Auf der individuellen Ebene geht es um Entscheidungsmöglichkeiten im Leben und um die Erinnerung. Beide Brüder haben nach ihren Unfällen Erinnerungsprobleme. Jack muss nach seinem Absturz mühselig seine Vergangenheit rekonstruieren (bei den entscheidenden Fragen Wie kam ich beim Absturz ins Dinghy? und Was passierte mit den übrigen Crewmitgliedern? scheitert er). Joe versucht womöglich, für sich eine erträgliche Zukunft zu konstruieren, in der er sich nicht (wie in seinen '1. Versionen') mit Jack oder Birgit überwirft. Ganz allgemein lernen wir in diesem Roman (falls wir das nicht schon lange wussten): Was Realität ist, hängt immer auch von der Sichtweise des Einzelnen - und dessen Erinnerungen - ab.
Vielleicht geht es dem Autor in The Separation noch um viel mehr Dinge, als ich hier erwähnt habe. In seiner Ehrengast-Rede beim Worldcon 2005 in Glasgow unterhielt er das Publikum z.B. mit einer ihn faszinierenden Verschwörungstheorie, derzufolge der echte Rudolf Hess 1941 starb, als er in Schottland zusammen mit dem Gatten von "Queen Mum" mit einem Wasserflugzeug verunglückte. Die Untersuchungsakten zu diesem Unglück wurden offenbar damals von Churchill auf 70 Jahre für Top Secret erklärt - Näheres also 2011. Offensichtlich erwärmte sich Priest bei der Beschäftigung mit diesem Fall so sehr für das Thema Hess, dass er anschließend 120 Fachbücher ganz oder teilweise las und diesen Roman verfasste, den zahlreiche Kritiker in höchsten Tönen preisen.
Leider gelingt mir das nicht. Das liegt zum einen an der Sprache des Buches, die mir in den ersten Kapiteln noch angenehm klar vorkam. Später wirkte sie auf mich meist nur distanziert-unterkühlt und durchgängig unpoetisch. Dazu kommt, dass die Menschen in diesem Buch kaum an Statur gewinnen. Während Jacks Geschichte folgte ich der Handlung noch einigermaßen interessiert, weil die Dreiecksgeschichte zwar nur oberflächlich skizziert war, mich aber auf ihrem klischeehaften Niveau fesselte. Ziemlich genau in der Mitte des Romans jedoch verlor ich das Interesse an dem weiteren Wohlergehen aller Beteiligten. Da Priest nicht vermochte, eine einzige Geschichte anrührend zu erzählen, interessierten mich die weiteren Varianten auch nicht mehr. Sein zweifellos peinlichst genau geplanter Plot wirkte auf mich nur wie der Hokuspokus des allmächtigen Romanschöpfers. Schade, ich würde gern etwas anderes schreiben, aber trotz all der Arbeit, die in diesem Roman steckt, wollte der Funke nicht auf mich überspringen.
Themenbereich "Parallel Welten"
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