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Reihe: ~ Eine Besprechung / Rezension von Erik Schreiber |
William Gibson wird immer wieder als Erfinder des Cyberpunk genannt und daher erwartet man von ihm ähnliche Romane, ohne zu berücksichtigen, dass sich ein Autor auch weiterentwickelt. Im vorliegenden Roman greift Gibson immer wieder auf Ideen aus dem Cyberpunk zurück, dennoch ist das Werk alles andere als Science Fiction. Die Bezeichnung "ein furioser Wirtschafts-Thriller" auf der Umschlagrückseite beschreibt den Inhalt sehr gut. Systemneustart ist ein Buch, in dem nicht sehr viel passiert. Allein für sich ist das Buch ein interessantes Werk, in Verbindung mit Mustererkennung und Quellcode bietet die Trilogie um Hubertus Bigend (Big End) jedoch einen Gegenwartsroman, der es in sich hat. Im Mittelpunkt steht wieder der mysteriöse belgische Bigend, auf der Suche nach neuen Produkten. Je länger man den seinen Spuren folgt, desto mehr wird aber aus dem ‚normalen’ Gegenwartsroman eine Erzählung, die ein wenig Zukünftiges anbietet, jedoch mehr Wissenschaftliches zu bieten hat.
Im Mittelpunkt des Werkes stehen geheime Marken. Nur durch eine gelungene Mund-zu-Mund-Propaganda werden neue Marken im Bereich der Kleidung bekannt gemacht. Mode wird interessanter, wenn sie nicht jeder trägt, aber jeder haben will. Auf diese Weise verkauft sich die neue Mode. Je mehr von der ungewöhnlichen Mode erfahren, um so mehr wird diese zum Kultgegenstand. Der Modeschöpfer, der Geld verdienen will, geht aber nicht etwa an die breite Öffentlichkeit, sondern bedient sich des überall erreichbaren Internets. Nach cleverer Platzierung der Neuheit in den richtigen Blogs, Newslettern und Ähnlichem stürzt sich die Webgemeinde schnell auf das IN-Produkt. Denn jeder will dabei sein. Für den Modeschöpfer jedoch winkt Geld, viel Geld und dieses Geld weckt Begehrlichkeiten an anderer Stelle. Mit den neuen Jacken und Hosen erhofft sich das Militär eine neue Grundlage für seine Uniformen. Und wo ein Großabnehmer winkt, winkt großes Geld zurück. Einer, der diesen Wink versteht, ist der Mikro-Marketing-Mogul Hubertus Bigend.
Ort der Handlung ist das britische London, mit Abstechern in das französische Paris und das amerikanische Süd-Carolina. Während so die Grenzen territorial abgesteckt sind, öffnen sich die innerhalb des Internets.
Aus den vorhergehenden Romanen Mustererkennung und Quellcode treten die ehemalige Rocksängerin Hollis Henry und der auf Entzug gewesene Milgrim auf. Hollis schrieb ein Buch über locative arts, während Milgrim auf einem bezahlten Entzug in einer teuren schweizer Spezialklinik war. Wobei Hubertus Bigend den Aufenthalt in der teuren Klinik nicht unbedingt aus Nächstenliebe finanzierte. Milgrim, Ex-Junkie und Spezialist für Beschaffungen außerhalb legaler Wirtschaftswege, ist nun von der Gutmütigkeit Bigends abhängig. Hollis und Milgrim sollen für ihn den Designer finden, der mit der Jeans-Bekleidung die Kultmarke Gabriel Hounds entwarf. Mit zum Team gehört eine Motorradbraut namens Fiona, die ehemalige Schlagzeugerin Heidi Hyde und Garreth, Hollis' Geliebter. Beim aberwitzigen Versuch vom höchsten Gebäude der Welt zu springen wurde er von einem Auto angefahren. Sein verletztes Bein enthält jetzt einen Knochen aus Rattan. Die amerikanische Armee nutzt ihn als Versuchsobjekt, um Amputationen zu verhindern.
Die Klamotten unter dem Label Gabriel Hounds gibt es überall im Internet, etwa bei Ebay, jedoch nur die gefälschten Labels. Insider wissen hingegen, wo sie Hounds kaufen können, die echten. Das Label ist IN, aber scheinbar nicht zu erhalten. Der Name der Hose ist nicht wichtig, wenn es um das Produkt an sich geht. Unter Berücksichtigung des Kleidungskultes des 20. Jahrhunderts, bei dem die Militärbekleidung in den Straßenalltag der Großstädte Einzug hielt, geht es darum, an lukrative Aufträge für die US-Armee zu kommen. Ob es nun die Tarnbekleidung der amerikanischen Soldaten oder der Parka der deutschen Bundeswehr oder das Palästinensertuch ist - überall finden sich Kleidungsstücke militärischer und paramilitärischer Einheiten. Ist jetzt die militärische Kleidung wichtiger als der Mensch darin?
Im Laufe der Suche nach dem Designer treten Konkurrenten in den Weg, um vielleicht vorher noch den lukrativen Kuchen für sich zu gewinnen und nicht teilen zu müssen. Eine kleine Gruppe exzentrischer Menschen macht sich auf die Suche nach dem Designer hinter Gabriel Hounds. Nur sehr wenige Eingeweihte wissen, wann und wo man die handgemachten Einzelstücke kaufen kann, die nach Mode-Schnitten aus den 50er- und 60er-Jahren angefertigt wurden und aus hochwertigsten Materialien bestehen. Innerhalb der Handlung werden klassische Thrillerelemente, wie etwa eine Entführung und ein Gefangenenaustausch, beschrieben. Andererseits finden sich geplante Einsätze, die nach einem engen Zeitplan ausgeführt werden sollen, und natürlich die üblichen Zufälle, die dafür Sorge tragen, dass eine Handlung einen ungeahnten Bogen macht und so für Überraschungen sorgt. Gleichzeitig lässt William Gibson in der Erzählung offen, in welchem Zusammenhang wer dabei mit wem zusammenarbeitet. Gleichzeitig treten sehr viele Personen auf, die dafür Sorge tragen, den Leser etwas zu verwirren. Dies gilt natürlich auch für die Handlungsträger. Nachher herrscht zwischen allen Beteiligten ein allgegenwärtiges Misstrauen. Dies gilt vor allem weil in der Öffentlichkeit des wirklichen Lebens und erst recht in der undurchsichtigen, aber allgegenwärtigen Welt des Internets nichts unbeobachtet, verborgen und spurenlos bleibt.
Übrig bleibt eine leicht chaotisch wirkende Welt des Konsums und des Konsumterrors durch die großen Firmen. Das Buch sorgt dafür, dass kaum noch jemand einen klaren Durchblick hat, wer nun was genau wo sucht und gegen wen er sich zur Wehr zu setzen hat. Einen zentralen Part spielt sicherlich Milgrim. Jahrelang lag er in einem Entzugskoma, wo er nichts mitbekam, was die Welt betraf. So ist er einerseits entwöhnt, kennt aber die Droge, alles haben zu wollen, was neu und IN ist, nicht. Um so deutlicher wird klar, dass der ehemalige Drogensüchtige dem Leser eine Art Spiegel vor die Nase hält, in dem der sich erkennen kann. Die Frage, die sich stellt - dem Handlungsträger wie dem Leser - ist doch: Welchen Wert messe ich bestimmten Dingen zu?
Die Welt des Autors William Gibson ist nicht einfach zu beschreiben. Ist Systemneustart ein Thriller, in dem es um Industriespionage geht, geheime Labels und die Anwendung von Marketing und Gegen-Marketing? Ein Roman um Überwachung und Bewachung? Ein Science-Fiction-Roman hart an der schmalen Grenze zur Gegenwart? Die heutige Science Fiction wird anscheinend nicht von Maschinen beherrscht, sondern von Meinungen und Meinungsmache.
Was immer es ist, es ist immer noch großartig.