| Serie/Zyklus: ~ Eine Besprechung / Rezension von Rainer Skupsch |
Rae Seddon - für ihre Freunde nur 'Sunshine' - ist eine junge, hübsche Frau, die irgendwo in Small-Town-America ein ganz gewöhnliches Leben zu führen scheint. Sie hat eine über-fürsorgliche Mutter, zwei pubertierende Stiefbrüder, einen verständnisvollen Liebsten mit wilder Biker-Vergangenheit, und sie ist die Königin des Zimtbrötchens und anderer phantasievoller Pâtisseriekreationen, für die sie alltäglich im Diner ihres Stiefvaters am Backofen steht. 'Charlie's Coffeehouse' ist der Ort, um den sich Raes Leben dreht, und ein Grund, warum die Altstadt von New Arcadia noch nicht zum Slum verfallen ist. Von nah und fern kommen die Gäste.
Raven Blaise ist der vielleicht letzte Spross eines alten Geschlechts von 'magic-handlers'. Ihre Mutter verließ ihren Mann, den mächtigen Zauberer Onyx Blaise, als Raven noch ein kleines Kind war. Vaters Spur - und die seines ganzen Klans - verlor sich in den Wirren des 'Voodoo War', der bald darauf die halbe Welt verwüstete, eines Krieges zwischen den Menschen und ihren Todfeinden, den 'suckers', wie man Vampire umgangssprachlich nennt.
Eines Tages entflieht Rae Seddon dem allwöchentlichen gemeinsamen Familien-Kinoabend. Sie setzt sich ins Auto, fährt hinaus an den einsamen See vor den Toren der Stadt ... und fällt dort in die Hände einer Horde von Vampiren, die sie zu einem verfallenden Landhaus mitschleppen. Man zieht ihr ein rotes Seidenkleid an, führt sie in einen Ballsaal, kettet sie an die Wand und lässt sie allein mit ihrem Mitgefangenen: einem ausgehungerten Vampir. Dieser Vampir tötet sie nicht, nicht in dieser Nacht und nicht in der folgenden, als die Gefängniswärter zurückkehren, Rae eine klaffende Wunde beibringen und sie dem Mitgefangenen auf den Schoß werfen. Rae erkennt, dass sie das zufällig ausgewählte Folterwerkzeug ist, mit dessen Hilfe der 'master vampire' Beauregard seinen gefangenen Rivalen Constantine brechen will. Und Rae hat Träume, in denen sie sich an ihre Kindheit erinnert und in denen ihr Großmutter Blaise zeigt, wie man Gegenstände verwandelt. Als die Sonne das nächste Mal aufgeht, fertigt sich Rae einen Universalschlüssel und öffnet ihre Ketten. Aber sie flieht nicht sofort, sondern bietet Constantine an, ihn mitzunehmen. Rae heißt nicht umsonst auch Raven Blaise und Sunshine. Sonnenlicht verstärkt ihre magischen Kräfte, und sie spürt, dass sie, so lange sie Körperkontakt aufrecht erhält, selbst einen Vampir vor dem Tageslicht schützen kann. Constantine denkt nach. Er eröffnet Rae, gestärkt durch das Blut einer Blaise, könne er es womöglich mit der ganzen Vampirhorde aufnehmen, und trägt sie dann doch sechzig Meilen nach Hause.
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Nach diesen Erlebnissen kann Sunshines Leben nie mehr so sein wie zuvor. Sie muss mit ihren traumatischen Erlebnissen klarkommen. Sie muss sich verstecken vor Beauregard, für den sie nun nicht mehr ein austauschbares Stück Fleisch ist - wie, wenn nicht durch ihre Mithilfe, hätte Constantine bei Tage entkommen können? Sie muss vor ihrer Familie und den Behörden verheimlichen, dass sie Umgang mit einem Vampir hatte; denn in der Parallelwelt von "Sunshine" ist es erste Bürgerpflicht, jeden Vampir zu vernichten.
Es gibt viele gute Gründe, Robin McKinleys Roman zu mögen. Fast alle finden sich bereits auf den nahezu perfekten ersten achtzig Seiten, die ich gerade beschrieben habe. "Sunshine" beginnt mit acht Seiten Kleinstadtalltag und wird dann urplötzlich zum grimmigen Schauerroman mit einer Prise Romance à la 'Die Schöne und das Biest'. Das Buch ist in der 1. Person geschrieben und hat in seiner Protagonistin eine Figur, die immer direkt am Geschehen ist, eher erlebt denn erzählt. Gleichzeitig zeigt sie einen Sinn für Selbstironie, der sie die Parallelen zwischen ihrem Leben und "nineteenth-century melodrama" (S. 101) erkennen lässt. "Sunshine" zeigt jederzeit seine Einflüsse, gewinnt aber gerade durch die Art und Weise, wie McKinley Genrebilder variiert und sprachlich beeindruckend ausmalt. Natürlich reitet "Sunshine" auf der von "Buffy, the Vampire Slayer" ausgelösten Sex-mit-Vampiren-Welle, aber, sorry, es kommt nie wirklich zum Äußersten (und die drei Szenen im Buch, in denen es um Geschlechtsverkehr geht, sind durchweg klischeefrei geschrieben und anregend). Außerdem ist die 'Action' im (überlangen) Mittelteil des Buches sehr dünn gesät. Hier geht es vor allem um Sunshines psychische Probleme, das Leben als Wunder-Konditorin (Neil Gaiman fühlte sich dabei an den Film "Chocolat" erinnert) und die Erschaffung einer faszinierenden Welt.
In McKinleys Amerika hat es immer schon mythologische Wesen gegeben: natürlich Vampire, Werwölfe und alle typischen Schreckgestalten des Horrorfilmrepertoires. Aber eigentlich gibt es so viele Dämonenarten wie Sand am Meer. Die meisten von ihnen sind eher harmlos (man muss sich nicht wirklich fürchten vor einem Werkaninchen oder einer alten Dame mit einer Schwäche für Rasendünger); allerdings hat der fast aussichtslose Krieg gegen die Vampire dazu geführt, dass jeder mit einer Spur Dämonenblut in sich (und das sind mehr 'Menschen', als man denkt) sich umgehend bei den Special Other Forces registrieren lassen muss, den Polizeikräften für alle Fälle, in die Andere/Nicht-Menschliche involviert sind. Rassismus und soziale Benachteiligung sind in diesem Klima der Angst an der Tagesordnung, die demokratischen Grundrechte werden immer weiter ausgehöhlt. Interessant in dieser Welt sind auch einige Details, wie die Tatsache, dass man aus verständlichen Gründen nicht 'it sucks' sagt, sondern 'it blows'; oder dass eine ganze Industrie ihr Geld mit Amuletten, Talismanen und Abwehrsprüchen verdient, mit denen jedermann sich und sein Haus schützt.
Noch eine Anmerkung zum Objekt Buch: Mit "Sunshine" habe ich nach langer Zeit mal wieder ein amerikanisches Taschenbuch gekauft - einfach weil die englische Ausgabe deutlich teurer war. Wie konnte ich nur!? Das Format ist klein, die Papierqualität ist dürftig, und jede einzelne Seite ist mit Buchstaben vollgestopft. Leute, die so etwas produzieren, können nicht selbst Leser sein. Und das Titelbild der britischen Erstausgabe wäre auch viel geschmackvoller gewesen!