| Hugo Awards 2008 - die nominierten Novellen Teil 3: Originaltitel: Stars Seen Through Stone Autor: Lucius Shepard Erstveröffentlichung: Novelle, erschienen Juli 2007 in Fantasy & Science Fiction; 28156 Wörter Eine Besprechung / Rezension von Rainer Skupsch |

Einige Monate bevor die eigentlichen Geschehnisse der Novelle einsetzen, genießt der Ich-Erzähler Vernon eines Abends auf den Stufen der Stadtbibliothek von Black William, Pennsylvania, einen Joint, als plötzlich auf unerklärliche Weise 15-20 Sekunden lang ein heftiger Wind direkt von oben auf ihn - und nur auf ihn - herabbläst. Für den Fortgang der Ereignisse ist dieser Zwischenfall ohne Bedeutung. Vernon jedoch zieht aus ihm die Lehre, dass es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, als ... na, Sie wissen schon, und dass es manchmal nicht nötig ist, die Ursachen von allem und jedem zu hinterfragen.
Diese Eingangsszene kündigt den märchenhaften Charakter der folgenden Erzählung an, die Vernon selbst am Ende seiner Ex-Frau Andrea gegenüber als "like a fairy-tale" bezeichnet; einer Erzählung, die ironisch und spielerisch daherkommt, aber dennoch fest in unserer gegenwärtigen Welt verankert ist.
Vernon und Andrea strandeten zehn Jahre zuvor in diesem kleinen Bergbaukaff, als auf der Durchreise ihr alter Volvo schlapp machte. Andrea schuf sich bald eine seriöse Existenz als Anwältin für Arbeitsrecht, während sich Vernon als Musikproduzent regionaler Indie-Bands einen gewissen Namen machte. Einige Jahre und eheliche Fehltritte später kam es zu einer hässlichen Scheidung, und man ging getrennte Wege.
Die Haupthandlung von "Stars Seen Through Stone" beginnt, als Vernon gerade ein vielversprechendes neues Talent, den 26-jährigen Joe Stanky eingeladen hat, in seinem kleinen Musikstudio einige Stücke aufzunehmen. Bei seiner Ankunft im Ort erweist sich Stanky als ein aufgeschwemmtes, asoziales Arschloch mit Hygieneproblemen sowie einer schmierigen Art gegenüber Frauen. Gleichzeitig aber ist seine Musik wirklich erstklassig, sodass Vernon zähneknirschend fürs erste die Eskapaden seines potenziellen Goldesels duldet.
Nach einiger Zeit, in der man als Leser Joe Stanky von Herzen zu hassen beginnt, nimmt die Geschichte dann eine etwas andere Richtung. Bei zwei verschiedenen Anlässen sehen Vernon und sein Schützling im Stadtpark vor der Bibliothek seltsame Lichtphänomene, leuchtenden Sternen ähnlich. Ein Teenager aus Stankys Fangemeinde schießt mit seinem Handy einige spektakuläre Fotos und weiß zu berichten, dass ebensolche Sterne in der Vergangenheit schon einmal in Black William erschienen, und zwar vor zweihundert Jahren dem Namenspatron der Stadt, William Garnant. Der Mann hatte sich im Unabhängigkeitskrieg den Ruf eines grausamen Schlächters erworben und auch später keine Untat ausgelassen. Nach seinem ersten Blick auf die Sterne änderte er sich eine Zeit lang, bemühte sich, ein besserer Mensch zu werden, weil er das Phänomen abergläubisch für das Produkt teuflischer Kräfte hielt. Bald jedoch fiel er in alte Gewohnheiten zurück. Immer öfter durchstreifte er die Wälder der Umgebung, um die Sterne ein zweites und drittes Mal zu sehen, und verschwand schließlich für immer.
In Vernon regt sich angesichts dieser Schauergeschichte der Verdacht, es könne hier ein Zusammenhang bestehen mit zahlreichen Ereignissen, die ihm bislang nicht aufgefallen waren. In Black William haben in jüngster Zeit einige Menschen ungewöhnliche Erfindungen gemacht. Vernons bester Freund Rudy, ein Architekt, zeichnet plötzlich phantastische, düstere Comics. Ein Teenager entwickelt sich zum gewieften Massenmörder - und eine Polizistin fasst ihn nach nur zwei Tagen. Joe Stanky produziert neue Songs am Fließband. Und Vernon findet zu Andrea zurück, ungeachtet der Schlammschlachten und gegenseitigen Verletzungen der letzten Jahre. Die zwei sind verliebt wie am ersten Tag und können die Hände nicht von einander lassen. Ist all dies womöglich das Werk einer unbekannten Macht? Und wenn ja: Wie wird dies alles enden? Was wird geschehen, wenn die Sterne zum dritten Mal erscheinen? Während sich täglich eine erwartungsvolle Menge im Park versammelt, kommt es zu einer Serie von Selbstmorden, und der erste betrifft Rudy.
"Stars Seen Through Stone" liest sich über weite Strecken wie realistische Gegenwartsliteratur, angereichert mit einigen wenigen Elementen, die am ehesten dem Horrorgenre zuzuordnen sind. Eigentlich erzählt die Novelle ein Märchen über die Unmöglichkeit dauerhafter romantischer Liebe, aber dies ist dem Leser über weite Strecken nicht bewusst. Zu irdisch sind die handelnden Personen, zu provinziell die dreckige kleine Bergbaustadt. Lucius Shepard tourte selbst zehn Jahre als Rockmusiker durch die Lande, bevor er Anfang der Achtziger Schriftsteller wurde. Das merkt man seinen Beschreibungen der Musikszene Pennsylvanias auch an. Hier ist nichts märchenhaft-glamourös. Hier werden Szenen beschrieben, die sich glaubhaft anfühlen. Während ich dies schreibe, habe ich vier der fünf 2008 für den Hugo Award nominierten Novellen gelesen, und dies ist bisher die einzige, die ihre Charaktere als Menschen ernst nimmt.
Lucius Shepard gehört zu den Autoren, die ihre Storys nicht fertig im Kopf haben, wenn sie sich an den PC setzen:
"Basically, I don't outline. I just get an idea of a story most times. I find that I think best about what the story's going to be when I'm writing it." [Aus einem Interview in StrangeHorizons]
Das merkt man dieser Novelle manchmal an. Über weite Strecken ist dem Leser nicht klar, welches Ziel sie ansteuert. Dabei wird Joe Stanky als Figur eine große Bedeutung eingeräumt, die im Nachhinein nicht gerechtfertigt erscheint. Ähnlich Rudy, der Architekt, der Cartoons zeichnet, in denen Minenarbeiter Schweinefleisch- statt Kohleflöze abbauen, der regelmäßig mit Vernon an einem verseuchten Teich angelt und darüber sinniert, was für einen hässlich-mutierten Fisch sie wohl als Nächstes fangen werden. Tatsächlich könnte man "Stars Seen Through Stone" vorwerfen, dass die Handlung hin und her irrt und teilweise für die `Botschaft’ der Geschichte ohne Bedeutung ist. Andererseits kann der Aufbau der Story nicht das einzige Kriterium bei der Beurteilung durch den Leser sein.
Auf mich hat dieser Text nicht zuletzt wegen seiner Sprache nachhaltigen Eindruck gemacht, die sorgfältig, genau - und manchmal poetisch - ist wie selten in der Phantastischen Literatur.
"[What] I like to read is people who write well. I like sentence-to-sentence good writing. I like how Gene Wolfe can write, and people like that. People calling some writers stylists and others storytellers is kind of a bullshit thing, because, that's to say Gene Wolfe couldn't tell a story? Or William Faulkner couldn't tell a story? People of that sort? I just think it's those people who write sentence-to-sentence better. They're not writing page-turners, maybe, but I don't think "page-turner" is the definition of storytelling." [Noch mal StrangeHorizons]
"Stars " ist sicher kein "page-turner", dafür aber ein Text ohne einen einzigen peinlich schlechten Satz. Ergo beansprucht die Lektüre eine gewisse Zeitspanne, während derer man sich am ironischen (und manchmal auch zynischen) Humor des Ich-Erzählers erfreuen kann. Zur Illustration hier zwei Beispiele; zum ersten aus der Szene, in der Vernon gerade von seiner Punker-Freundin Mia verlassen wurde, zum zweiten aus der Beschreibung eines Musikklubs, an dem er finanziell beteiligt ist:
"After she had gone, I sat thinking nonspecific thoughts, vague appreciations of her many virtues, then I handicapped the odds that her intricate makeup signaled an affair and decided just how pissed off to be at Stanky."
"Separate from the cafeteria, the back half of the building was given over to a bar with a few ratty booths, rickety chairs, and tables. We had turned a high-school artist loose on the walls and she had painted murals that resembled scenes from J. R. R. Tolkien’s lost labor-union novel."
Lucius Shepard hat eine phantastische Novelle geschrieben, von der ich mich endlich einmal nicht intellektuell unterfordert fühle (und ich bin sicher kein Genie). Außerdem benutzt er eine ganz bestimmte, nahe liegende Schlusswendung, die mir schon seit vielen Jahren durch den Kopf geht. - Tja, was lange wärt, wird endlich gut. So habe ich sie also doch noch in einer Geschichte gefunden.
Sind Sie jetzt vielleicht neugierig geworden, wovon ich eigentlich rede? Dann besorgen Sie sich den Text und schauen Sie selbst. Machen Sie sich die Mühe! Sie könnten Ihre Zeit viel schlechter verbringen.