Serie: Die Abenteuer von Spirou und Fantasio Eine Besprechung / Rezension von Rainer Skupsch |
Eines Winterabends im Hafen von Le Havre: Fantasio ist auf der Jagd nach der ganz großen Story. Gerüchten zufolge soll hier außerplanmäßig ein Eisbrecher vor Anker gegangen sein. Am Kai 47 fotografiert der Fotoreporter die "HK Glacier" (deutsch die "Gletschermaid"), die offensichtlich unter Quarantäne steht und von Soldaten mit Gasmasken bewacht wird. Ein Mann springt heimlich über Bord, klettert auf die Pier, gibt Fersengeld und kracht mit Fantasio zusammen, der ihn sofort erkennt: Der Mann heißt John Héléna (in der deutschen Übersetzung ohne Akzente), genannt "Die Muräne", und ist passionierten Spirou-Lesern als Ganove bereits aus den Bänden 7 (Das Versteck der Muräne) bzw. 15 (Tiefenrausch) bekannt.
Hélénas Gesichtsfarbe ist unappetitlich grünlich. Woran das liegt, erklärt er Fantasio folgendermaßen: Zwei Jahre zuvor wurde er auf Bewährung aus dem Gefängnis entlassen. Weil niemand sonst einen Ex-Knacki seines Kalibers anstellen wollte, nimmt er schließlich einen Handlanger-Job bei der Errichtung eines Laboratoriums in der Antarktis an. Nach der Fertigstellung wird die Station zu einem Ort, an dem Wissenschaftler an den gefährlichsten Seuchen herumexperimentieren, die die Menschheit kennt. Trotz schärfster Sicherheitsvorkehrungen tritt eines Tages die Katastrophe ein: Die gesamte Besatzung erkrankt. Héléna flüchtet in Panik zur Küste, wird von der Glacier aufgenommen und bringt diese - als er auch hier alle ansteckt - dazu, nach Frankreich zu fahren. Héléna ist klar, dass nur ein Mann ihm helfen kann: Pacôme Hégésippe Adélard Ladislas Comte de Champignac (oder für deutsche Leser: der Graf von Rummelsdorf).
Fantasio klingelt den erbosten Spirou aus dem Bett und lässt sich und Héléna nach Champignac chauffieren. Der Graf weiß gleich, was zu tun ist. Er kennt ein Serum namens "Antivirax", das so ziemlich gegen jede Seuche hilft. Einziges Problem: Ein kleiner Bestandteil fehlt ihm, ist dafür aber gewiss in der polaren Forschungsstation vorrätig. Sofort brechen Spirou und Fantasio in die Antarktis auf - mitsamt Héléna (und natürlich Spip) - um in einem Wettlauf gegen die Zeit das Leben aller von dem Virus Befallenen zu retten. Unglücklicherweise wurden unsere Abenteurer in Champignac von einem Spion des Chemiekonzerns Farmarm belauscht. Als sie im Blizzard über der Antarktis abspringen, sind die Killer von Farmarm auch nicht weit. Denn der Chemiemulti ist der Erbauer des Laboratoriums und will um jeden Preis geheim halten, was dort wirklich vor sich geht ...
Anfang der achtziger Jahre beauftragte Dupuis gleich zwei Autorengespanne damit, die nach dem Bruch mit Jean-Claude Fournier brachliegende Serie fortzuführen (Fournier schrieb dem Verlag wohl nicht schnell genug). Nic und Cauvin lieferten daraufhin drei Bände ab, die allgemein als Tiefpunkt der Serie gelten: Die Geschichten waren wenig aufregend und die Bilder von Nicholas Broca arm an Details. Ganz anders die beiden Belgier Tome und Janry (alias Philippe Vandevelde und Jean-Richard Geurts), deren Alben zeichnerisch nur leichte Änderungen vornahmen, inhaltlich aber deutlich für ein etwas älteres Publikum geschrieben sind. Die Gangster sind bedrohlicher, die Probleme oft klarer der Realität abgeschaut. Mit biologischer Kriegsführung haben sich Spirou und Fantasio früher nicht auf 'James-Bond-Film-Niveau' befasst. Leichen gibt es in diesem Debütband allerdings noch nicht; zwar sehen einige Virusopfer wie Zombies aus, bleiben aber doch bis zur letzten Seite am Leben. Erst in einigen der späteren von Tome und Janry geschaffenen Werke wird dann tatsächlich im Bild gestorben.
Spirou und Fantasio wird aber natürlich in Virus nicht zum bierernsten Krimi. Die Hauptdarsteller bleiben, was sie immer waren. Spirou selbst ist der (fast) vollkommene Held: bescheiden, unbestechlich, mutig und doch immer überlegt vorgehend. Weitere Eigenschaften hat er kaum (oh, er ist trotz seiner wilden Jugend als "Kleiner Spirou" Frauen gegenüber total schüchtern, aber das spielt in Virus noch keine Rolle). Schließlich soll jeder junge Leser problemlos sich selbst an Spirous Stelle setzen können. Fantasio ist der leicht echauffierbare Fotoreporter mit einem Hang zu eitlen Spleens. Bei seinem ersten Auftritt wirkt er wie ein nachgemachter Kommissar Maigret mit Intelligenzler-Pfeife. Sein Wendemantel hat auf der Innenseite ein hübsches Muster mit kleinen Schiffchen, damit Fantasio am Kai ungesehen herumschnüffeln kann (super-genial der Mann!). Spip (deutsch: Pips), das Eichhörnchen, grummelt wie immer, weil niemand es für voll nimmt, und sieht im Quarantäne-Anzug einfach süß aus. Und der Comte de Champignac bleibt der genial-schusselige Erfinder und größte Mykologe aller Zeiten.
Daneben gibt es einige hübsche Gags. In Erinnerung ist mir der Spion geblieben, der sich als Schneemann verkleidet; die Plüschtier-Version des Marsupilami neben Spirous Bett; die zahme Robbe, die sich für einen Rettungsbernhardiner hält (samt Fässchen!); die Pinguine, die sich (wie im Schwimmbad) per Arschbombe von der Eisscholle ins Wasser stürzen ... Und dann ist da noch die Szene, in der der Killer eingeführt wird: Zuerst schwadroniert der Schreibtischtäter von Farmarm darüber, dass diese beiden jungen Schnösel Spirou und Fantasio wohl glaubten, sich wie in einem Comic aufführen zu können. Nächstes Bild: "So sind die Zeiten. Man sieht da seltsame Dinge ...," entgegnet der Killer - und es ist ein Zwillingsbruder von Lucky Luke, mit Sonnenbrille und einem Anzug, den ich nicht mal für viel Geld anziehen würde. Tome & Janry treiben den Witz später noch weiter, indem sie dem Arzt der russischen Polarstation Mirnov-Skaya das Gesicht eines der Dalton-Brüder geben. (Ein Mann, der - hier wieder ein Schuss Realitätsnähe - davon träumt, in Miami eine Praxis für kubanische Exil-Milliardäre zu eröffnen). Nur für Jolly Jumper fand sich keine Rolle mehr ...