Serie : Wurdack SF Band 10 Eine Besprechung / Rezension von Alfred Kruse |
Andrea Tillmanns: Happy Birthday
Eine Geschichte über das Bevormunden alter Leute, in die Zukunft extrapoliert und auf die Spitze getrieben. Andrea Tillmanns legt hier wieder eine ihrer bitterbösen Geschichten vor, die pointiert aktuelle Defizite unserer jetzigen Gesellschaft aufs Korn nimmt. Ein gelungener Auftakt.
Bernhard Schneider: Risiken
Ein Unsterblicher trifft eine Unsterbliche, ein Gegenentwurf zu "Highlander". Leider auch von der Stimmung und der inhaltlichen Dichte her, ein Autor im Formtief.
Christian Weis: Stadt aus Maschinen
Ein Wissenschaftler lässt sich einen experimentellen Chip ins Gehirn einpflanzen, um seinem mit einem Gendefekt geborenem Sohn zu helfen. Leider wirkt der Chip nicht so, wie erhofft, der Wissenschaftler degeneriert zu einem Debilem.
Christian Weis ist eigentlich Krimi-Spezialist, auch hier beginnt alles mit einer Entführung. Der Autor benutzt hier aber nur das Vehikel und die Technik des Kriminalromans, um den Leser zunächst über das eigentliche Thema, die Opferbereitschaft eines Vaters, im Unklaren zu lassen, nur um eben diesem Hauptthema am Ende noch mehr Gewicht geben zu können. Geschickt gemacht, schön geschrieben, ein wirklich intelligenter Plot, für mich das erste Highlight dieser Anthologie.
Dirk Becker: Nor Mal
Ein Schrat sammelt Geräusche und findet eine alte Uhr mit Zeitansage, die ihm besonders gut gefällt. Ich finde zu dieser Geschichte keinen Zugang, für mich ist sie einfach nur blöd. Vielleicht wäre das bei einer sorgfältigeren Ausführung anders? Christian Günther: Habitat
Terraforming mit Hindernissen - neben den Gefahren eines neuen Planeten und der Einsamkeit auch noch ein Gangster.
Eine sehr bildhafte Story, einfühlsam, berührend. Nicht nur lebt man mit den Protagonisten, man bekommt ein Feeling für die Situation und die Umwelt. Wenn auch die Story nicht sehr bedeutend ist, hat sie mir doch gut gefallen.
Frank Hebben: Amethyst
Die Geschichte des betrogenen Betrügers am Beispiel eines Organ-Händlers der nächsten (?) Zukunft.
Brutal! Frank Hebben gelingt es, die ganze Scheußlichkeit der illegalen Organbeschaffung dem Leser näher zu bringen ohne sich auch nur ein einziges Mal direkt dazu zu äußern. Ebenso stellt er die moralische Abartigkeit dar, ohne auch nur annähernd den Begriff "Moral" in den Mund (beziehungsweise die Tastatur) zu nehmen. Wenn einem auch erst beim zweiten Lesen die Klasse dieser Geschichte aufgeht, so ist sie doch insgesamt elegant und gelungen, für mich das zweite Highlight. Melanie Metzenthin: Eingezogen
Das Militär hat eine Telefonleitung ins Jenseits gebaut. Zwar exzellent geschrieben, aber vollkommen sinnfrei, der allerletzte Schliff fehlt. Schade drum.
Jakob Schmidt: Wo uns niemand findet
Eine Teleportationstechnologie lässt ein Abbild der Benutzer in einem Geister-Universum entstehen.
Jakob Schmidt schildert eindringlich Gedanken und Gefühle der Protagonistin, bringt die Parallelität zweier Universen schön auf den Punkt. Auch (und gerade !) die geisterhafte Existenz und die Auswirkung der Welt auf die dort Lebenden (?) werden deutlich und plastisch dargestellt. Das einzige Manko dieser Geschichte ist, dass sie wie das erste Kapitel eines Romans wirkt, ich möchte eigentlich weiterlesen, so ist das nicht befriedigend. Trotzdem halte ich diese Story für das dritte, diesmal etwas stillere Highlight dieser Anthologie.
V. Groß: Die Befreiung des Fremdlers
Ein Alien-Kontakter übertritt seine Vorschriften und wird nach einer Affäre mit einer Außerirdischen von diesen bestraft, sodass er seinen Job nicht mehr ausüben kann. Das kenn’ ich doch, das habe ich schon einmal so ähnlich gelesen: "The Man in the Maze" von Robert Silverberg. Keine Nacherzählung, eine schöne Hommage an einen großen Autor.
Heidrun Jänchen: Der Turm der Träume
Als die Arbeitslosen zu teuer wurden, lud man sie als körperlose Existenzen in Computer, damit sie dort als "KI" Probleme lösen. Doch die Technik ist weiter fortgeschritten, ein Supercomputer hat für die letzten Menschen ein beschäftigungs- und sinnloses Leben geschaffen, die menschlichen KIs sind überflüssig, ihre Computer lässt man verrotten. Die letzte Wartungsingenieurin bäumt sich dagegen auf.
Ganz große SF, ein zeitloser Klassiker. Heidrun Jänchen lässt den Leser teilhaben an der Frustration der letzten Hüterin der KIs, an dem unproduktiv-sinnlosem Leben der letzten Menschen. Im Gegensatz dazu zeigt sie die Produktivität und die Lebensfreude, das Glück der nur noch als Bits und Bytes existierenden Menschen der Vorzeit. Eine wunderbare Geschichte mit einem optimistischen Ende, eine große Autorin in Top-Form, das vierte Highlight.
Edgar Güttge: Hohenzollernbrücke
Durch einen Zufall (ein Zug wird verpasst) erleben die Reisenden eines Zuges auf der Hohenzollernbrücke eine Zeitreise.
Es geht jetzt Schlag auf Schlag! Nach Heidrun Jänchen liefert hier Edgar Güttge mit einer gelungenen Zeitreise-Story das nächste Highlight. Vollkommen action-los und doch wahnsinnig spannend gelingt es ihm, eine witzige und und in sich konsistente (was ja bei Zeitreisen nicht unbedingt der Fall ist) Story dem mitfieberndem Leser nahe zu bringen. Ich habe diese Story genossen!
Andreas Flögel: Ein Neuanfang im Paradies
Auf einem Kolonieplaneten werden die Eingeborenen ungeachtet ihrer Intelligenz als Jagdwild abgeschossen, um die Kolonisation nicht zu gefährden.
"Dass nicht sein kann, was nicht sein darf !" Andreas Flögel stellt diese Manager?Regel sehr schön exemplarisch dar. Erschreckend moralisch ist ein gewalttätiger Mörder der einzige Humanist der Kolonistengruppe - allen anderen ist die Störung ihres beschaulichen Lebens durch andere Intelligenzen unangenehm, für das Management sogar scheinbar karrierebedrohend, sodass dezent versucht wird, dieses Problem unauffällig zu beseitigen. Präzise wird das Management der Kolonisten als amoralische, miteinander um die Rangfolge kämpfende Gruppe beschrieben, die für ihre Zwecke im wahrsten Sinne des Wortes über Leichen geht. Die Parallelen zur aktuellen gesellschaftspolitischen Situation in Deutschland sind unverkennbar, die Story ist von daher eine klassische Form der SF. Für mich das Highlight Nr. 6.
Michael K. Iwoleit: Staub
Deutschland ist von Flüchtlingen überlaufen. In einem illegalem Feldversuch werden Nano-Partikel auf den genetischen Code dieser Flüchtlinge eingestellt und mehrere Tausend getötet. Der Erfinder rächt sich, indem er dieselben Nano-Partikel auf den Gen?Code des verantwortlichen Politikers programmiert und sie freisetzt.
MKI zeigt hier wieder einmal, dass deutsche SF sich sehr schön des Lokalkolorits bedienen kann. Die detaillierte Beschreibung des zukünftigen Ruhrpotts ist eine der faszinierendsten Facetten dieser Story. Auch die stringente Extrapolation aktueller Gegebenheiten in die Zukunft schlägt den Leser zusammen mit dem angenehmen Schreibstil des Autors in den Bann. Der Plot dagegen kann hier nicht mithalten, die Geschichte ist doch relativ unbedeutend.
Ines Bauer: Reisefieber
Ein intergalaktischer Sex-Tourist kommt nicht auf seine Kosten.
Der heutige Sex-Tourismus in die Zukunft extrapoliert und auf die Spitze getrieben. Teilweise bissig, aber immer komisch sorgt Ines Bauer für das Amusement des Lesers.
Niklas Peinecke: Deformationen
Die Menschen basteln an sich herum, lassen sich Hörner, Reißzähne und Ähnliches implantieren, werden zu Monstern. Aus Liebe zu Siska macht Derk hier mit und stirbt daran.
Eine nette Story, den heutigen Schöhnheitswahn bissig auf die Spitze treibend. Zusammen mit dem realistischen Setting und dem angenehmen Stil des Autors kann sich der Leser entspannt zurücklehnen und die Geschichte genießen.
Kai Riedemann: Der Dichter und die Sängerin
Eine Geschichte über eine Geschichte über Geschichtenerzähler der nahen Zukunft, die privatwirtschaftlich gesponsort und marktwirtschaftlich an einer Art Börse gehandelt werde. Eine exzellente doppel- und dreifachbödige Geschichte, in der Kai Riedemann in faszinierender Art und Weise mit der Realität spielt. Auch die faszinierende Idee, den Marktwert eines Künstlers im Sinne des Wortes und der heutigen aktienfanatischen Gesellschaft darzustellen, macht die Story zu einem kleinen Juwel.
Armin Rößler: Cantals Tränen
Als Tier im Zirkus festgehalten, verzaubert Cantal mit ihrer Psi-Gabe das Publikum. Nach jeder Vorstellung muss sie aber die Rückstände der Emanationen des Publikums in Form einer Träne abgeben. Einer Träne, die für ihren Besitzer eine Droge ist. Cantal kann fliehen und erreicht ihren Heimatplaneten. Dort verwandelt sie sich in eine erwachsene Form und testet gerade ihre neuen Grenzen, als ihr ehemaliger Besitzer mit einer Fänger-Mannschaft ankommt, um sich Ersatz zu beschaffen. Er fängt auch, ohne sie zu erkennnen, die erwachsene Cantal und lässt sich sofort von ihr eine Träne geben. Doch diesmal ist die Träne tödlich.
Wie man an dieser Zusammenfassung vielleicht schon merkt, erzählt Armin Rößler eine faszinierende Space Opera. Etwas Derartiges habe ich nicht mehr gelesen, seitdem ich auf Alan Dean Forsters Flinx-Romane stieß. Beide Autoren haben ein Faible für die Exotik, bei beiden wird Spannung mit der Faszination fremder Welten und neuer Zivilisationen verknüpft. Und genau wie Foster verzaubert Armin Rößler den Leser, der am Ende der Story irritiert aufschaut und sich fragt, wann und wo es weitergeht.
Arnold H. Bucher: Wunschkind AG
Wie man in der Zukunft ein Wunschkind bekommt - und wie man es umtauscht.
Eine bitterböse Geschichte im Stil von Roald Dahl, bitterböse, gemein, aber auf den Punkt treffend. Selten habe ich Gesellschaftskritik derart präzise geschrieben erlebt, die Story ist wirklich nur schwer auszuhalten. Aber empfehlens- und nachdenkenswert, sie sollte eigentlich in keinem Schul-Lesebuch fehlen.
Petra Vennekohl: Kettenreaktion
Marla ist Wissenschaftlerin auf einer Raumstation, zusammen mit ihren Kollegen versucht sie, das Ozonloch zu beseitigen. Aber Öko-Terroristen sind gegen weitere wissenschaftliche Aktionen, mit einem Computervirus zerstören sie das Satellitennetz der Station - und machen damit die Erde tatsächlich unbewohnbar.
Eine sehr vorhersehbare Extrapolation eines Standard-Settings, allerdings hervorrragend erzählt. Sehr schön bringt Petra Vennekohl die Dummheit und den Irrsinn der Öko-Terroristen rüber, stellt deutlich dar, dass sie ungebildet, profilierungssüchtig und unsozial sind. Der Verrat des Freundes von Marla ist sozusagen das letzte I-Tüpfelchen, er zeigt auf, dass eine solche Denke nicht nur die Gesellschaft, sondern auch jeden Einzelnen schädigt. Vielleicht kein Highlight, aber in jedem Fall inhaltlich und stilistisch in der oberen Qualitätsklasse anzusiedeln.
Frank W. Haubold: Heimkehr
Ein wissenschaftliches Experiment schlägt fehl, das Forschungsinstitut Niederlahr liegt seitdem unter einem undurchdringlichem Schirm, der Barriere. Nur Kravitz ist entkommen, er war zum Zeitpunkt des Experiments auf einer Tagung. Seit acht Jahren kommt er jeden Jahrestag nach Niederlahr und wartet darauf, dass die Barriere fällt. Und dann geschieht es tatsächlich. Frank W. Haubold erzählt hier eine kleine, ganz persönliche Geschichte - aber derart spannend und aufregend, dass man sie nicht aus der Hand legt. Die Perspektive wechselt nicht, der Fokus bleibt vollständig auf dem Protagonisten Kravitz, dessen Gedanken und Gefühle ausführlich beleuchtet werden. Und das ist auch die große Stärke dieser Story: Dem Autor gelingt es nicht nur, das Innenleben des Protagonisten für den Leser verständlich zu schildern, er zieht mit seiner Darstellung den Leser auch vollständig in den Bann der Geschichte. Stilistisch ist das traumhaft, selten liest man derartig gelungen geschriebene SF. Bemerkenswert auch, dass Frank W. Haubold hier ein weiteres Mal zeigt, dass man keine Action braucht, um eine packende Geschichte zu erzählen. Ein schöner Ausklang dieser Anthologie.
Fazit: Ein Feuerwerk der großen SF, eine Anthologie, die sich nicht hinter den großen Story-Sammlungen angloamerikanischer Autoren verstecken muss. Auch wenn einzelne Geschichten nicht gefallen, so ist doch der persönliche Geschmack hier meistens der Grund, objektiv betrachtet kann es jede dieser Geschichten mit einer von Asimov oder Silverberg aufnehmen. Sehr schön ist auch die Auswahl, die einen breiten Bereich der SF abdeckt. Diese Anthologie macht Lust auf mehr.