Reihe: HEREDIUM-Rollenspiel-Universum Eine Besprechung / Rezension von Rainer Skupsch |
Bei „Neue Ufer“ handelt es sich um einen Franchise-Roman zu einem mir bis dato unbekannten Rollenspiel namens HEREDIUM. Ich meine mich zu erinnern, dass es weitere Romane gibt, die im selben Universum angesiedelt sind. Ob und inwieweit die Kenntnis von deren Inhalt für die Lektüre wichtig ist, vermag ich nicht zu sagen.
Das Buch spielt im Jahre 2200, auf einer Erde, deren Zivilisation durch zwei Katastrophen weit gehend vernichtet wurde:
Im Jahr 2055 setzte der Geophysiker Naoh gasförmige Substanzen in der Atmosphäre frei, die Schadstoffe aus der Luft filtern konnten. Leider hatten diese den Nebeneffekt, bei Flora und Fauna des Planeten umfassende Mutationen auszulösen. Durch beschleunigten Pflanzenwuchs wurden binnen kurzem ganze Kontinente überwuchert. Tiere wurden größer, stärker, wilder und an Intelligenz dem Menschen fast ebenbürtig. Und beim Homo sapiens selbst entwickelte sich die Sorte Mutanten, die wohl jedem SF-Fan aus zahlreichen Texten/Filmen geläufig ist.
Zwang schon diese Entwicklung die Menschheit fortan zu einem Leben in befestigten Städten und Siedlungen, so versetzte ein zweites Ereignis ihr beinahe den Todesstoß. In einem Werbetext zum HEREDIUM-Rollenspiel heißt es dazu:
„Im Jahre 2190 AD zerreißt eine Explosion die Mondoberfläche. Die Wucht des Aufpralls katapultiert einen Brocken des Erdtrabanten in Richtung blauer Planeten - das Geschoss zieht nur knapp oberhalb der Erdoberfläche vorbei und versetzt die Weltmeere in Wallung. Gaja taumelt und gerät aus ihrer äonenalten Bahn. An der Erdoberfläche werden Staaten und Kulturen von Naturkatastrophen erschüttert, bis Jahrtausende alte Fundamente schließlich zusammenbrechen, und die Weltgemeinschaft als solche nicht mehr existiert. Zehn Jahre vergehen, bis die Erde ihr inneres Gleichgewicht wiederfindet." (S. 296)
Eben diese zehn Jahre später existiert auf der Welt nur noch eine Hochtechnologie-Kuppelstadt: Hirohito City, im heutigen Thailand gelegen, ein Ort, der de facto von japanischen Mafia-Familien kontrolliert wird. Zu einer von ihnen, der Harada-Familie, gehörte der Kaukasier Lennard, bis er kurz vor dem oben angesprochenen „Mondfall“ als Folge eines Mordanschlags ins Koma fiel. Als er 2200 daraus erwacht, kann er sich zuerst nicht an sein früheres Leben erinnern, sieht sich aber bald von einem Killer verfolgt, der ihm nach dem Leben trachtet. Lennard überlebt fürs Erste dank der Hilfe der Krankenschwester Jenny und des Abenteurers Marek - und dank seiner besonderen eigenen Fähigkeiten, die allmählich zu ihm zurückkehren. Denn er ist ein Mutant, der früher für die Haradas telepathisch deren Konkurrenten ausspionierte.
Dass dies bekannt wird, können sich die Haradas nicht leisten. So sieht sich Lennard gezwungen, mit seinen zwei neuen Freunden aus der Stadt zu flüchten. Ziel seines Weges soll die einst ukrainische Stadt Charkiw sein, wo früher eine Mutantenkolonie existierte. Aber ob es die noch gibt? Auf seiner gefährlichen Reise erinnert sich Lennard an immer mehr Bruchstücke aus seinem früheren Leben. Andere Puzzleteile finden derweil in Hirohito City zwei Polizisten, die auf seinen Fall aufmerksam geworden sind. Und der Harada-Killer, der weiterhin auf Lennards Spur ist? Wird er letztlich seine Beute aufspüren?
Das wichtigste strukturelle Prinzip von „Neue Ufer“ ist die ständige Bewegung, und das auf zwei verschiedenen Ebenen. Einerseits bewegen sich die beteiligten Akteure - zuerst innerhalb von Hirohito City, später dann auf ihrer für phantastische Abenteuerromane recht typischen Reise von A nach B. Ziel wie Reiseweg sind auf einer der zwei Landkarten im Buchanhang genau eingezeichnet. Daneben entsteht Bewegung durch ständigen Perspektivwechsel. Als Leser verfolgen wir die Geschichte aus zahlreichen unterschiedlichen Blickwinkeln, wobei der Erzähler in der Regel alle ein bis drei Seiten von einer Person zur nächsten springt. Für Innehalten / gelegentliche Entschleunigung ist bei dieser Vorgehensweise keine Zeit, ebensowenig für die Entwicklung von Charakteren. Im Grunde wirkt alles in diesem Buch beliebig - die Story genauso wie die Personen. Es passiert halt zwangsläufig auf einer langen Reise dies und das, und einige Leute sterben. Nahe geht das dem Leser aber zu keiner Zeit.
Dafür ist der Text äußerst leicht und flüssig lesbar. Wenn man traditionelle Abenteuergeschichten etwa auf dem Niveau der guten alten Perry-Rhodan-Planetenromane zu schätzen weiß (schon klar, die Dinger sind von Anno Tobak, aber mir fällt mangels eigener Leseerfahrung kein Beispiel aus jüngerer Zeit ein), ist man mit diesem Roman gut bedient. Man muss halt aushalten können, dass manchmal der Logik Gewalt angetan wird, um den Fortlauf der Action zu gewährleisten, und man muss die zahlreichen Zeichensetzungs- und Rechtschreibfehler übersehen, die der Lektorin leider entgangen sind. Diese Fehler stören bei der Lektüre sicher nur Pedanten wie mich, aber gut und gern 1000 davon auf knapp 300 Seiten sind schon eine ganze Menge.
Was seine äußere Erscheinung angeht, kann das Buch dagegen mit Produkten großer Verlagshäuser mithalten. Layout und Grafik sind professionell, das umlaufende Titelbild ist durchaus ansprechend. Letzteres zeigt übrigens hauptsächlich einen muskulösen, tätowierten, entschlossen dreinblickenden - kurz: virilen - Mann, der gut veranschaulicht, worum es in diesem Werk geht: ganze Kerle. Ein Stoff, aus dem schon mancher Klassiker gemeißelt wurde. Frauen dagegen kommen nur als Sexobjekt vor oder werden zügig umgebracht. „Neue Ufer“ ist ein typisches Buch für jüngere männliche Leser (und für solche, die sich auch im fortgeschrittenen Alter ein kindliches Gemüt bewahrt haben): In erster Linie befriedigt es mit dem mächtigen Mutanten Lennard, der auch noch langsamer altert als normale Menschen und für irgendein Schicksal auserwählt scheint, die Allmachtsphantasien seiner Leserschaft.