Serie: ~ Eine Besprechung / Rezension von Rainer Skupsch
|
Northamptonshire, 1946: Das zehnjährige Waisenkind Maria ist die Besitzerin von Schloss Malplaquet, einem gewaltigen Landsitz viermal so lang wie Buckingham Palace. Leider hat sie nach dem Unfalltod ihrer Eltern kein Geld geerbt, sodass der Sitz ihrer Väter zunehmend verfällt. Marias Leben ist wahrlich kein Zuckerschlecken: Zu ihrem Vormund ist der Dorfvikar Mr. Hater (man beachte den Namen) bestimmt worden. Bevor ihm in Gestalt des kleinen Mädchens die Chance seines Lebens über den Weg lief, war er die Geissel der örtlichen Public School. Dort wirkte einstmals auch Marias Gouvernante Miss Brown, deren Charakter ihrem hexenähnlichen Äußeren entspricht. Die einzigen Verbündeten des Kindes im Alltag sind die warmherzige Köchin Mrs. Noakes sowie der alte Professor, der bettelarm immer knapp am Hungertod vorbeischrammt, weil er es nicht über sich bringt, einige seiner zahllosen Bücher zu veräußern.
Hater und Brown haben vor Maria ein nicht unbedeutendes Geheimnis, in dem es um ein verschwundenes Pergament und das Erbrechtsprinzip des "mort d'ancestre" geht. Damit das Kind niemals davon erfährt, überwachen sie es auf Schritt und Tritt und missbilligen vor allem seine Freundschaft mit dem alten Gelehrten. Zum Glück verschwindet Hater dann doch regelmäßig in seinem Rolls Royce Richtung London und Brown wird von einem ihrer Migräneanfälle außer Gefecht gesetzt. An solchen Tagen kann Maria nach Herzen durch ihren riesigen Park stromern und sich ihren abenteuerlichen Tagträumen hingeben.
Bei einem dieser Ausflüge entdeckt sie, dass die kleine Insel Mistress Mashams Ruh' in einem der Parkteiche die letzten (etwa 500) lebenden Lilliputaner beherbergt. Maria freundet sich mit den kleinen Menschen an und verspricht, das Geheimnis ihrer Existenz zu schützen. Dann aber bemerken Hater und Brown ihre 'Untermieter'. In ihrer Gier setzen sie alles daran, die Lilliputaner zu versklaven und für viel Geld (am besten gleich nach Hollywood!) zu verkaufen. Selbst Mord erscheint ihnen dabei als probates Mittel ...
"Wenn man sich's recht überlegt, waren Miss Brown und Mr. Hater eher rührende Gestalten denn schreckliche. Es war so furchtbar lange her, seit sie das Jung-Sein vergessen hatten, daß sie in Marias Händen hilflos waren. Natürlich lag es in ihrer Macht, Maria zu tyrannisieren - ihre Schwäche jedoch lag darin, sich nicht einzugestehen, daß Maria zweimal so helle war wie sie. 'Eltern', sagte der unsterbliche Richard Hughes, der das beste Buch über Kinder geschrieben hat, das je erschienen ist, 'die meinen, ihr Kind an vielen Stellen zu durchschauen, (...), machen sich selten klar, daß ihre Chancen gleich null sind, wenn das Kind wirklich etwas verbergen will.'" [S. 122]
Mit Schloß Malplaquet veröffentlichte T. H. White 1946 ein Kinderbuch, das sich eigentlich an Erwachsene richtet. Whites Roman besitzt durchaus so manche Eigenschaft, die man in einem Werk für Heranwachsende erwartet: Die Handlung dreht sich um ein kleines, süßes Mädchen, das kleine, süße Menschlein kennen lernt, einige Abenteuer durchlebt und am Ende über Schurken triumphiert, die ebenso gerissen wie dämlich sind. Miss Brown und Mr. Hater entstammen direkt der Klischeeschublade für grausame Lehrerinnen und bigotte Pfarrer. Typen wie sie haben spätestens seit Oliver Twist und Jane Eyre einen festen Platz in der englischen Literatur. Weiterhin treten auf die rundliche Köchin, der schusselige Professor und ein (leider gar nicht komischer) Polizist, der sechs Seiten benötigt, um zu begreifen, dass man ihn auf ein drohendes Verbrechen hinweisen will.
White belässt es jedoch nicht dabei, bewährte Versatzstücke neu durchzumischen. Im Zitat weiter oben bezieht sich der allwissende Erzähler höchstwahrscheinlich auf einen Roman des walisischen Autors Richard Hughes mit dem Titel Ein Sturmwind auf Jamaika (A High Wind in Jamaica, 1929). In jenem Buch wird im 19. Jahrhundert in der Karibik eine Gruppe von Kindern von Piraten entführt. In der Beschreibung Hughes' erweisen sich diese Entführungsopfer charakterlich als genauso vielschichtig wie nur irgendein Erwachsener. Das Mädchen Emily - etwa im Alter von T. H. Whites Maria - ermordet sogar mit dutzenden Messerstichen einen ebenfalls gefangenen holländischen Kapitän und sorgt am Ende durch einen geschickten Auftritt vor Gericht dafür, dass die Piraten an ihrer Stelle am Galgen baumeln. Whites Heldin Maria ist sicher keine Mörderin, aber auch weit davon entfernt, ein unschuldiger Engel zu sein. In den Lilliputanern sieht sie lange Zeit vor allem tolle Spielzeuge und ideale Untertanen. In ihren Tagträumen phantasiert sie von sich als kommender Königin, die aufmüpfige kleine Untertanen mit strenger Hand hinrichten lässt. Als ihre Entschlossenheit, einen Lilliputaner zum Piloten ihres Gummibandflugzeugs zu machen, diesem schwere Verletzungen einbringt, beginnt sie dann doch zum Glück (l a n g s a m) umzudenken.
Auch die Lilliputaner sind nicht bloss drollige Püppchen. Vielmehr haben sie in den letzten 250 Jahren entbehrungsvolle Zeiten durchgemacht. Als sie (kurz nach der Episode mit Gulliver) von ihren Inseln entführt wurden, hatten sie sich gerade in einem sinnlosen Bruderkrieg beinahe gänzlich selbst ausgerottet. Anschließend durchlitten sie in England ein Martyrium als Kneipen- und Jahrmarktsattraktion, bis ihnen endlich die Flucht auf Mistress Mashams Ruh' gelang. Da endlich wendete sich ihr Schicksal und sie vermochten - trotz regelmäßiger Todesfälle durch die Raubtiere des Parks - eine neue, freie Gemeinschaft zu gründen. Dass sie im 20. Jahrhundert erneut in die Gefahr geraten, (von Brown & Hater) zu rechtlosen Akteuren einer Freakshow degradiert zu werden, wollte mir allerdings nicht einleuchten. Man sollte doch meinen, dass in unseren Tagen auch 15 cm große Menschen gewisse grundlegende Rechte genießen.
Zwei weitere Dinge haben sich mir bis zum Ende nicht erschlossen: Der Erzähler scheint die Geschichte einer Person namens Amaryllis zu erzählen, die er auch mehrfach direkt anspricht. Um wen es sich bei dieser Zuhörerin handelt, bleibt im Dunkeln. Die Tatsache, dass der Erzähler regelmäßig offen moralisiert, legt aber den Schluss nahe, dass sie wie die Heldin noch ein Kind ist. Außerdem nutzt T. H. White seinen Schauplatz, das in Teilen noch aus der Zeit der normannischen Eroberung stammende Schloss, für einen Streifzug durch die englische Geschichte. Ständig lässt er die Namen historischer Persönlichkeiten fallen, die irgendwann einmal Malplaquet einen Besuch abstatteten. Viele dieser Namen sind dem - erwachsenen - Leser bekannt, dem jugendlichen gewiss nicht. Irgendwann während der Lektüre wuchs in mir der Verdacht, dass White schlicht mit seinem Wissen angeben wollte, aber vielleicht erging es dem Autor auch nur wie seinem - ebenfalls umfassend gebildeten - alten Gelehrten und er musste einfach mal zu (nicht mit) jemandem über die Themen reden, die ihn tagein tagsaus beschäftigten.
Anscheinend diente White übrigens das reale Blenheim Castle, ein Schloss des Herzogs von Marlborough, als Vorbild. Ein prächtiger Anblick, ganz ohne Zweifel. - Oh, hat mir das Buch nun gefallen? Ja, zumindest immer dann, wenn es um Maria bzw. die Vergangenheit der Lilliputaner ging ... und wenn ich die Leute erkannte, deren Namen White nebenher fallen ließ. Ja, ja, mir war klar, dass General Wolfe der Eroberer Quebecs im Siebenjährigen Krieg war, und ich kannte auch Richard Hughes’ berühmten Roman. Mein Gott, was sind wir Menschen doch eitel! Aber: Hätte ich das nicht schon vorher gewusst, wäre es noch eine Lektion gewesen, die ich in Schloß Malplaquet an jeder Ecke hätte lernen können. Also wieder ein Pluspunkt.