Reihe: ~ Eine Besprechung / Rezension von Rainer Skupsch |
Unerwartet und vor seinen Jahren stirbt Royce Greve, der Prinz von Ombria, Herrscher der größten, schönsten und ältesten Stadt der Welt. Er hinterlässt einen kleinen Sohn, Kyel, den Thronerben, sowie seine Mätresse Lydea, die Geliebte seiner letzten fünf Jahre. Mit seinem Tode übernimmt "Großtante" Domina Pearl die Regentschaft, eine jahrhundertealte Zauberin, vor der ganz Ombria in Furcht und Schrecken erbebt.
Als erste Handlung setzt Pearl Lydea vor die Tür des riesigen Schlosses. In ihr bestes Kleid gewandet, mit edlen Steinen an ihren Händen und Schuhen, blickt die Mätresse dem sicheren Tod ins Auge. Es kann nur eine Frage von Minuten sein, bis sie, ohne Schutz, von den Räubern und Bettlern der Stadt in Stücke gerissen wird. Der einzige mögliche Zufluchtsort der jungen Frau ist die Schankkneipe ihres Vaters, aus der sie einst in die Arme ihres Märchenprinzen floh. Lydea läuft los und hätte doch keine Chance, wenn nicht eine junge Unbekannte ihr beistünde, die ihre Verfolger ablenkt.
Dieses Mädchen heißt Mag und ist 16 Jahre alt Sie ist der Lehrling einer weiteren Zauberin, mit Namen Faey, deren Reich die "underworld" ist, ein Gebiet unterhalb - und gleichzeitig in der Vergangenheit - Ombrias. Dort finden sich alle vergessenen Schlösser, Häuser und Landschaften der Stadt, irren die Geister umher und verbringt Faey ihre endlosen Tage. Faey ist älter als die Stadt selbst und aller tief gehenden Emotionen ledig. Jedem, der einen Weg zu ihrem Reich findet, verkauft sie gleichmütig ihre Dienste. Sie liefert ebenso dem Meuchelmörder eine Gifttinktur wie seinem möglichen Opfer einen Schutzzauber gegen ihren eigenen Trank.
Mag erledigt in der gegenwärtigen Welt die Botengänge für sie. Ihre Herrin nennt sie ihren Wachsling ("waxling"), und oft sieht sich Mag selbst als genau das - ein wandelndes Ding. Ob sie das Resultat eines Zauberspruchs oder doch eher ein Waisenkind ist, weiß sie nicht. Seit sie jedoch mit 7 Jahren einmal versehentlich ein Herz verschluckte, das sie für Faey ins Schloss liefern sollte, denkt sie eigene Gedanken und ist von einer unbändigen Neugier erfüllt. Mag weiß viel mehr als alle Gleichaltrigen - und viel weniger. Wenn ihr ein Bäckergeselle einen Heiratsantrag macht, findet sie das genauso `interessant’ wie Lydeas Konflikt mit Pearl - oder die Kneipentouren von Ducon Greve, dem illegitimen Bastard des Herrscherhauses und nächsten Verwandten des kleinen Thronfolgers.
In Zeiten des Umsturzes ist Ducons Leben aus vielen Gründen ständig bedroht: Zum einen weiß die Regentin, dass nur ihm - und Lydea - das Leben des kleinen Kyel am Herzen liegt. Zum anderen versuchen gleich zwei Verschwörergruppen, Ducon für ihre eigenen Machtansprüche zu instrumentalisieren. Ducon steht zwischen allen Fronten und hält alle hin. Während Ombrias Adel Ränke schmiedet, zieht er mit Kohlestift und Papier durch die Gassen und Freudenhäuser der Stadt und zeichnet jedes Gesicht - und jedes dunkle Tor -, auf das sein Blick fällt.
Dann verliert eine Verschwörergruppe die Geduld und gibt bei Faey Gift für den Mord an Ducon in Auftrag. Mag wird von der Zuschauerin zur Akteurin und setzt Prozesse in Gang, mit denen sie nie gerechnet hat.
Ombria in Shadow ist innerhalb der Genre-Fantasy in mehrerer Hinsicht ein Ausnahmefall. Das Buch ist ein Kammerspiel mit ganz wenigen Personen, dessen Handlung die ganze Welt ändert. Patricia McKillips Roman besitzt mit Lydea, Mag und Ducon drei gleichrangige Hauptpersonen. Das spiegelt sich schon auf den Titelbildern der verschiedenen Buchausgaben wider. Während die von mir rezensierte Ausgabe Mag in Großaufnahme zeigt, sieht man bei Klett-Cotta den kleinen Kyel (?) (und über ihm den drohenden Schatten Domina Pearls). Auf dem am weitesten verbreiteten Titelbild wiederum [siehe unten] ist Lydea zu sehen mit ihrem endlosen roten Haar. Wie bei so vielen McKillip-Romanen stammt dieses Bild von der Künstlerin Kinuko Y. Craft.
McKillips Geschichte bewegt sich durch eine phantastische Unterwelt, dunkle Gassen und die Gänge eines riesigen Schlosses wie durch einen nicht enden wollenden Traum. Der Aufbau der Handlung ist dagegen durchweg von untergeordneter Bedeutung und - offen gesagt - für mich gänzlich unwichtig. Ombria in Shadow lebt von seiner Atmosphäre, von seiner Melancholie und Theatralik. In wirklich jeder Rezension des Buches - selbst den lauwarmen - wird an erster Stelle lobend McKillips Sprache erwähnt, die hier aber auch wirklich alles wagt und fast alles gewinnt. Zur besseren Illustration sei die Szene angeführt, in der Pearl ihre Rivalin um die Gunst Kyels vor die Tür setzt.
"Then there was the waking dream: Royce Greve looking at [Lydea] one last time, skin molded to the bones of his face, his hand shaking, lifting to touch the long fall of her hair. Something happened. She waited for his fingers to reach her, but they lay on the tapestry coverlet as if they had never moved. Around her, in the dead silence, the candles whispered his name, hers. Domina Pearl touched her.
Then she was walking to the west gate with the Black Pearl at her side to see that she did not linger a moment past her usefulness. The yard was deserted there. A stand of sunflowers hung their heavy heads like mourners; the sea drew slow, hollow breaths, loosed them as slowly. The palace stood listening, it seemed, to the tolling of the bells, with every window an eye, witness to her disgrace." (S. 7f)
Diese zwei Absätze atmen Theatralik in jedem Satz. Das gerade in seiner Kürze so wirkungsvolle "Something happened" etwa, als der Prinz stirbt, oder das Rauschen des Meeres, das mit dem Atem eines Sterbenden verglichen wird. Dazu - wie in zahlreichen anderen Szenen - die Belebung lebloser Dinge, um die Szene noch bedrohlicher und traumhafter zu zeichnen: "...sunflowers hung their heavy heads like mourners".
Der Gesamteindruck, den eine solche Prosa erzeugt, erinnert sicher mehr an eine gute italienische Oper denn ein Königsdrama Shakespeares. Gewagte Metaphern wie z. B. "the long night opened its toad’s eyes in his thoughts and watched" (S. 35) sind womöglich eher dem Kunsthandwerk als der `großen Kunst’ zuzuordnen, bleiben aber fast immer charmant und eindrucksvoll - und das 290 Seiten lang.
Wenn man sich Leserreaktionen auf "Ombria" anschaut, finden sich einige Meinungsäußerungen wie Ich hätte gern mehr über die Personen erfahren, Ich hatte gehofft, Ducon würde sich in Mag verlieben oder Warum wurde nicht klar gesagt, woher Mag stammt? Mit Verlaub, liebe Leser: Mir scheint, Sie haben das Buch nicht verstanden. Für meinen Geschmack erfahren wir noch viel zu viel über die einzelnen Personen. Wenn McKillip gegen Ende halbherzige Erklärungen dazu abgibt, wer Ducons Vater ist und wer Mags Mutter, dann ist das ein überflüssiges Zugeständnis an die Erwartungen des Publikums, das beinahe das Buch ruiniert.
In diesem Werk ist wirklich die Atmosphäre alles: Schatten überall, selbst im Namen der Stadt; ein Herrschergeschlecht, dessen Name wie "grief" klingt; die Geschichte an sich ein Märchen mit Rollenträgern. Faey sagt über ihre Konkurrentin Domina Pearl: "Her meanness outruns her talents. She’s mostly imagination. But up there, that mostly works." (S. 23) Und damit hat sie Pearl ausreichend charakterisiert - als die typisch böse Hexe (also ein Kunstprodukt), die (auf der Bühne dieses Romans) aber durchaus ihren Zweck erfüllt. Um die weiteren Personen steht es nicht viel anders. Ducon, der sich in einer Szene vorkommt wie in "a city within a tale" (S. 32), erinnert in groben Zügen an das Hamlet-Klischee des intellektuellen Prinzen, der vor lauter Grübeln nicht zum Handeln findet. Lydea ist die verwöhnte Mätresse, die durch Kummer und Leid an Tiefe gewinnt ... und Mag ist der Zauberlehrling, der noch nicht weiß, was Furcht ist. Mit ihrer Unschuld setzt sie den Kontrapunkt zu Lydeas und Ducons Melancholie.
Außer den bereits erwähnten Figuren gibt es eigentlich nur noch Lydeas Vater, einen faustischen Historiker und jede Menge gesichts- wie namenlose Verschwörer. Sie alle benutzt Patricia McKillip - um das Stichwort Theatralik noch einmal zu bemühen - für imposante Szenenbilder mit Dialogen, die jedem guten Hollywood-Melodram zur Ehre gereichen würden. Mit anderen Worten: ein durch und durch unrealistisches Buch, ein fast perfektes Buch - wären da nicht die störenden Erklärungen sowie das hektische Herumgerenne am Ende, die McKillip benötigte, damit Ducon in einer schönen Szene Lydea und Kyel in die Realität zurückzeichnen kann.
Sei es drum. Schwamm drüber. Um es deutlich zu sagen: Dies ist ein Buch für die einsame Insel. Dass es davon bis heute keine deutsche Taschenbuchausgabe gibt, ist unentschuldbar, obwohl ich den Grund für dieses Versäumnis vielleicht erahne: Als ich vor Jahren die deutsche Übersetzung las, war ich entsetzt über die Menge der Rechtschreibfehler. Bei einem Verlag wie Klett-Cotta hätte ich das nicht erwartet.
Zum Glück gibt es eine ganze Reihe von McKillip-Romanen aus jüngerer Zeit, die mir noch unbekannt sind. Wahrscheinlich werden die konventioneller gestrickt sein als Ombria in Shadow. Besorgen werde ich sie mir nach und nach trotzdem, und zwar auf Englisch: Vielleicht tue ich den Übersetzern ja Unrecht, aber ich schätze, manchmal muss es einfach das Original sein.