Titel: Other Earths Eine Besprechung / Rezension von Andreas Muegge |
Alternative Welten ist ein Subgenre in der SF, mit dem ich nicht besonders viel anfangen kann. Zu selten kommt etwas wirklich Neues, was den Stempel SF verdient hätte. Trotz aller Vorbehalte konnte ich bei dieser Sammlung, oder sagen wir lieber bei diesem Aufmarsch von Autoren, nicht widerstehen.
In "This Peaceable Land, or, The Unbearable Vision of Harriet Beacher Stowe" von Robert Charles Wilson hat es den amerikanischen Bürgerkrieg nicht gegeben und die ehemaligen Sklaven sind freie Bürger. Damit ergeben sich aber ganz neue Probleme: Wie geht man mit der großen Masse an ungebildeten Menschen um und wie lange dauert es, bis alte Vorurteile veschwinden? Eine intelligente Geschichte die ein recht provokantes Thema angeht: Gibt es sinnvolle Kriege? Ich stimme zwar nicht der Logik des Autors zu, aber seine These ist sehr mutig. (6/7)
"The Goat Variations" von Jeff VanderMeer ist eine merkwürdige Geschichte über den Präsidenten der USA. Durch eine spezielle Maschine vermischen sich die alternativen Realitäten und der Leser sieht verschiedene mögliche Welten am 11. September. Der Beginn hat mir ganz gut gefallen, aber Jeff VanderMeer schafft es nicht, daraus eine gute Geschichte zu machen. Der Präsident wird als ziemliches Weichei dargestellt und bleibt bis zum Ende hin passiv, okay, aber wieso müssen die alternativen Welten wie in einem Film vor seinen Augen ablaufen? Was hat das Ganze zu bedeuten? Genau diese Art von Geschichten über Parallelwelten sind nicht nach meinem Geschmack. (2/7)
In "The Unblinking Eye" von Stephen Baxter sind die Inkas die technologisch fortgeschrittene Rasse. Sie kommen nach Europa und rütteln die Herrscher mächtig auf - sind sie Eroberer oder kommen sie in Frieden? Für mich hat die Geschichte nicht so recht funktioniert. Es gibt viele Referenzen auf bekannte Personen, die in dieser alternativen Welt eine andere Rolle spielen (Darwin, Kolumbus oder Newton, um nur einige zu nennen), aber eine sinnvolle Handlung kommt nie richtig in Gang. Schade, Potential wäre vorhanden gewesen. (2/7)
Theodora Goss erzählt in "Csilla's Story" eine wundervolle Geschichte, in der sich Dryaden vor langer Zeit mit den Menschen vermischt haben. Auf Grund ihrer Fähigkeiten werden ihre Nachfahren als Hexen verfolgt und haben es schwer, ihre eigene Identität durch die Jahrhunderte zu erhalten. Sehr poetisch geschrieben, mit Anleihen aus der ungarischen Mythologie. Das Einzige, was mir Probleme bereitete, waren die ungewöhnlichen Namen. (6/7)
"Winterborn" von Liz Williams ist eher der Fantasy zuzuordnen. Eine Frau verfügt über die Gabe des Flusslesens, d. h. sie kann mit Ertrunkenen in Kontakt treten, um Ereignisse zu interpretieren oder um in die Zukunft zu blicken. Diese Fähigkeit wird dringend von der Königin von England benötigt! Die Geschichte ist gut geschrieben, aber der Inhalt hat mich kalt gelassen. Insgesamt nichts Besonderes und das Ganze hätte auch ohne die Vorgabe "alternative Welten" funktioniert. (3/7)
"Donovan Sent Us" von Gene Wolfe ist eine hervorragende Geschichte. Die Deutschen haben England besiegt und Churchill in Gewahrsam genommen. Ein als SS-Offizier getarnter Amerikaner versucht Churchill in London zu finden und ihn zu befreien. Es ist immer wieder erstaunlich, wieviel Inhalt Gene Wolfe in eine so kurze Geschichte packen kann. Die vielen Andeutungen lassen von ganz allein ein komplexes Bild einer möglichen Zukunft entstehen. Die Charaktere sind überaus gut gelungen und der Schluss weiß zu überraschen. Empfehlenswert! (6/7)
"The Holy City and Em's Reptile Farm" von Greg van Eekhout ist interessant geschrieben, wirkt stellenweise aber zu konstruiert und würde auch ohne "alternative Welten" funktionieren, vielleicht sogar wesentlich besser! Es geht um eine Frau, die mit ihrem Vater und ihrem Bruder in der Nähe einer ehemaligen Pilgerstraße lebt. Sie besitzen einen Reptilienzoo, mit dem sie die durchreisenden Touristen anlocken. Das Geschäft droht einzugehen, als die Tempelritter eine Umgehungsstraße fertigstellen und keine Touristen mehr kommen. Die Frau macht sich auf den Weg zu einer Verlosung, bei der die Chance besteht, einen Splitter aus dem Kreuz Jesu zu gewinnen. Es gibt einige Stellen, die ich sehr unglaubwürdig fand (nein, nicht die Schlangen), z. B. wieso die Frau so leichtsinning durch die Wüste geht und dabei fast stirbt. Wenn der Autor mehr Sorgfalt walten gelassen hätte, wäre die Geschichte richtig gut geworden! (4/7)
Alastair Reynolds hat vor kurzem gerade eine Novelle geschrieben, die nahezu perfekt in das Thema hineingepasst hätte ("Six Directions of Space"). "The Receivers" spielt während eines Krieges. Zwei Sanitäter sind auf dem Weg zu einer Abhörstation, in der herannahende Flugzeuge frühzeitig geortet werden können. Der eine Sanitäter trifft dabei auf einen alten Freund, mit dem ihn eine gemeinsame Leidenschaft verbindet. Beide sind bzw. wären gerne Komponisten. Der Handlungsschauplatz ist gut ausgedacht und kann überzeugen, die Geschichte dagegen nicht. Kann sein, dass es an mir liegt, aber ich finde das Thema recht ausgelutscht. (3/7)
Mit "A Family History" von Paul Park konnte ich überhaupt nichts anfangen. Das Ganze ist nichts weiter als ein Gedankenexperiment und schnell wieder vergessen. Mich interessiert weniger, wie sich Ereignisse unterschiedlich entwickeln können, sondern wie die Menschen in diesem geänderten Umfeld zurechtkommen. (2/7)
In anderen Reviews wird "Dog-Earred Paperback of My Life" von Lucius Shepard als das Highlight der Sammlung angesehen. Es ist die längste Geschichte und handelt von einem Schriftsteller, der plötzlich bei Amazon ein Buch findet, das von einem Mann mit exakt dem gleichen Namen wie seinem geschrieben wurde. Sogar der Schreibstil ähnelt dem, was er vor Jahren geschrieben hätte. Mysteriös wird die Sache, als das Buch plötzlich nicht mehr auffindbar ist. Der Protagonist beschließt, der Sache auf den Grund zu gehen, und unternimmt die in dem mysteriösen Buch beschriebene Reise auf dem Mekong durch Südostasien. Shepards hervorragender Schreibstil macht die Geschichte überaus lesenswert. Es geht um Sex, Drogen, Selbstfindung und miteinander verwobene alternative Welten. Mir gefällt, auf welche Weise das Thema angegangen wird. Der Hauptcharakter bleibt immer im Mittelpunkt und es geht letzten Endes um die Frage, was für ein Mensch (bzw. was für eine Bestie) tief in einem schlummert. Mittendrin werden einige herbe Seitenhiebe ausgeteilt, u.a. ein Rundumschlag auf die typische Leserschar, in der sich wohl jeder wiederfinden wird - autsch! Bei all seinen Stärken fällt die Story zum Ende hin leider ab. Ich habe den Schluss zweimal gelesen und finde, dass die Auflösung etwas Besseres verdient hätte. Dadurch wird der Gesamteindruck der ansonsten sehr guten Geschichte leicht geschmälert. (5/7)
Und zum Schluss ein weiteres Gedankenexperiment! "Nine Alternate Alternate Histories" von Benjamin Rosenbaum spielt mit der altbekannten Idee, ob der Mensch eine Entscheidungswahl hat und wie sich das auf seine Zukunft auswirkt. Das ist ein gefährliches Terrain, insbesondere weil sich ein Autor mit den Philosphen der vergangenen Jahrhunderte messen lassen muss und dabei in der Regel verliert. Die Geschichte von Benjamin Rosenbaum fand ich komplett überflüssig. (1/7)
Fazit: 3 sehr gute, 4 gute und 4 schlechte Geschichten, was insgesamt leider meine negativen Vorbehalte bestätigt. Es reicht einfach nicht, seine Fantasie spielen zu lassen und mögliche Welten zu erfinden - man muss sie auch zum Leben erwecken und sie müssen eine Bedeutung haben.