Titel: Necroville Eine Besprechung / Rezension von Rainer Skupsch |
Los Angeles in etwa einhundert Jahren: 22 Millionen Menschen leben in der Metropole - und etwa zehn Millionen von ihnen sind Tote, die im Stadtteil Saint John, der größten Necroville der Erde, ihr Zuhause haben. Vor etwa vierzig Jahren entwickelte die "Corporada Tesler-Thanos" die Nano-Technologie, mit deren Hilfe man die Körper Verstorbener zu neuem, immerwährendem Leben rekonstruieren kann. Und sie versilberte diesen technologischen Durchbruch nach bestem Vermögen. Vor den Gerichten setzte sie den Grundsatz "Das letzte Hemd hat keine Taschen" durch. Das bedeutet: Der Preis für die Auferstehung ist der Verlust der Bürger- und Menschenrechte. Tote besitzen keine Sparkonten, und wenn sie sich nicht zu Lebzeiten um die Gebühren gekümmert haben, die Tesler-Thanos für ihre Wiedererweckung erhebt, beginnt ihr zweites Leben mit Jahrzehnten als vertraglich gebundener Lohnsklave. Viele der `toten’ Einwohner Saint Johns schuften tagsüber in allen möglichen Berufen für ihre lebenden Arbeitgeber und kehren abends in die Necroville zurück, die sie bei Nacht nicht verlassen dürfen. Trotzdem hat das Dasein als `Zombie’ auch seine Vorteile: "They look good (they can look anything they want), they never get sick, they live forever."* Und alle Lebenden beneiden sie letztlich darum, weswegen kaum jemand ablehnt, nach seinem Tod als Toter zu leben.
Dies ist auch die Ausgangsidee, die Ian McDonald ursprünglich zu seinem Roman inspirierte. Offensichtlich stellen die Toten in "Necroville" ein ausgebeutetes Arbeiterproletariat der Zukunft dar, das lebende Arbeiter arbeitslos macht. Aber sie sind auch jung, schön, potent - und viele von ihnen haben sich in den letzten vierzig Jahren das Wissen verschafft, wie sie ihre Körpereigenschaften so modifizieren können, dass sie quasi zu Formwandlern werden. Damit sind sie dem `alten’ Menschen körperlich überlegen - und sie werden immer mehr. Längst haben die toten Lohnsklaven im All die Macht an sich gerissen, und wenn die Romanhandlung einsetzt, schickt sich gerade ihre Invasionsflotte an, ihre Brüder und Schwestern auf der Erde zu befreien.
"Necroville" spielt - abgesehen von einigen Rückblenden - innerhalb eines einzigen Tages. Das Buch setzt am Morgen des 1. Novembers ein und endet 24 Stunden später. Der 1. November ist mittlerweile als "Allertotentag" bekannt, an dem die Toten in ihren Gettos Karneval feiern. Diese Feierlichkeiten ziehen viele neugierige Menschen an, unter ihnen fünf Männer und Frauen Ende zwanzig, deren Erlebnisse der Autor einen Tag lang verfolgt: Santiago, Trinidad, Toussaint, Camaguey und YoYo sind fünf alte Freunde, deren Wege sich längst getrennt haben. Trotzdem treffen sie sich jedes Jahr im Karneval um der alten Zeiten willen, und zwar im Café Terminal in Saint John. Dieses Mal jedoch wird das Café lange Zeit leer bleiben. Ian McDonald widmet stattdessen jedem seiner Protagonisten einen eigenen Erzählstrang und beschreibt darin, was sie jeweils tun, anstatt sich zu treffen. Dabei entwirft er kaleidoskopartig das stimmungsvolle Bild einer phantastischen Zukunft.
Genau das versucht natürlich jeder Science-Fiction-Roman: eine Welt zu entwerfen. Wenn sich ein Autor daran macht, einen narrativen Text zu schreiben, nimmt er sich gewöhnlich die reale Welt und fügt in sie einen kleinen fiktiven Bereich ein. SF-Autoren allerdings stehen in dieser Situation vor einer ungleich schwierigeren Aufgabe, weil sie meist gleich eine ganze fiktive Welt erschaffen müssen, einschließlich der Dinge, Gegebenheiten und Zusammenhänge, die uns nicht aus eigener Erfahrung bekannt sind.
Wie kann der Autor hier vorgehen?
Sollte er womöglich eine Einleitung schreiben und seinem eigentlichen Text voranstellen, in der er dem Leser seine neue Welt erklärt? - Dagegen sprechen die Rezeptionsbedingungen für Science Fiction. Die Gattung besitzt eine große Stammleserschaft, eine (überschaubar große) Gruppe von Menschen, die regelmäßig und überwiegend SF lesen. Diese Leute zu verschrecken, kann sich der Schriftsteller nicht leisten und wird daher in aller Regel davor zurückscheuen, seinem Zielpublikum die Lektüre eines `trockenen’ Vorwortes zuzumuten.
Bleibt als Alternative nur, die nötigen Informationsbrocken in die Erzählung einzustreuen und den Leser zum Detektiv zu machen, der im Text verstreute Hinweise findet und zu einem Ganzen zusammensetzt. Auch hier ergibt sich allerdings das Problem, dass zu viele Hinweise (aka `Infodumping’) womöglich Leser verärgern, die nur eine spannende Geschichte erwarten oder die es stört, wenn ungeschickt eingefügte Informationen die Realitätsillusion der Erzählung zerstören. In dieser Konfliktsituation entscheiden sich die meisten Autoren für einen Weltentwurf, der unserer Realität in vieler Hinsicht ähnelt und sich nur in gewissen Einzelheiten von ihr unterscheidet.
Mir schien es bei der Lektüre von "Necroville", dass Ian McDonald uns Lesern mit seiner Welt des frühen 22. Jahrhunderts mehr zumutet / einen größeren Detailreichtum anbietet, als es der Großteil seiner Kollegen getan hätte. Das hat natürlich seine Auswirkungen auf die Lektüre. Es gibt dicke Romane, die man getrost an einem Tag lesen/überfliegen kann, ohne dass einem Wichtiges entgeht. Wenn man dies bei "Necroville" versucht, wird man womöglich über sperrige Prosa stolpern, auf jeden Fall aber einen beeindruckenden Weltentwurf verpassen. Ich habe mir von Anfang an Zeit genommen, habe mir die erste Hälfte des Buchs laut vorgelesen und war auf den ersten etwa 200 Seiten vom Inhalt begeistert. Gleichzeitig hatte ich schon hier und auch im weiteren Verlauf meine Probleme mit dem Roman. Diese begannen beim Plot und erstreckten sich bis zur Sprache.
McDonalds Schreibstil unterscheidet sich spürbar von der `kompetenten’ (man könnte auch sagen `langweiligen’) Einheitsprosa des Genres. Leider entwickelt der Autor speziell in "Necroville" aber ausgeprägte sprachliche Marotten, die mirwiederholt die Lust an der Lektüre vergällten. McDonald folgt zumindest dieses Mal oft dem Prinzip des `Mehr ist mehr’ - und fährt damit sehr schlecht. Bisweilen erweckt er den Eindruck, so viele adjektivische Attribute und Adverbien wie nur irgend möglich in seinen Sätzen unterbringen zu wollen, und häufig versucht er, durch die beharrliche Aneinanderreihung von Satzgliedern bzw. nebengeordneten Sätzen die Wirkung seiner Prosa zu steigern. Leider scheitern diese Bemühungen für meinen Geschmack allzu oft und wirken hauptsächlich forciert. Regelmäßig habe ich bei der Lektüre innerlich aufgestöhnt und mich gefragt, warum der Autor nicht öfters beim Schreiben innegehalten, eine Stunde nachgedacht und anschließend wenige, treffende Worte statt eines Schwalls beliebiger Wörter benutzt hat. Zur Veranschaulichung biete ich hier ein Beispiel. Ich hätte ebenso zahlreiche andere Stellen zitieren können:
"Das erhellende Gefühl, als die Wirkung der vor der Konfrontation einverleibten Neural-Akzeleratoren einsetzte, war so, wie YoYo sich sehr gelungenes Bumsen vorstellte. Die hitzige inwendige Erwärmung, die Hochempfindsamkeit der Haut, das Empfinden, als ob sich im Körper alles wände wie Aale im Sack, das immer stärkere Erlebnis scheinbarer Loslösung von der materiellen Welt, indem digitale und innere Uhr in wachsendem Maße divergierten, der Eindruck, dass das Ich vom grobschlächtigen leiblichen Fleischpaket nicht mehr festgehalten werden, man durch pure Willenskraft eine Million verschiedene biologische und cybernetische Inkarnationen annehmen könnte - diese kribbelige, gleichzeitig wunderbare und erschreckende Mischung aus Ungeduld und Erwartung musste der bänglich-freudigen Hoffnung fundamentalistischer Christen aufs Ende der Welt ähneln." (S. 394)
Womöglich wiederspreche ich mir gerade selbst: Einerseits bejubele ich McDonalds Detailreichtum - und im nächsten Satz mäkele ich daran herum. Außerdem fiele es mir schwer, den Finger auf ein bestimmtes Satzglied zu richten und es in der gegebenen Situation für überflüssig zu erklären. Trotzdem kann ich mir nicht helfen: McDonalds Satzbau ging mir wiederholt auf die Nerven.
Dazu kommen noch die schon erwähnten inhaltlichen Probleme. McDonald plant den Verlauf seiner Romane peinlich genau im Voraus ("I have to plot everything in detail before I actually get down to fingers on keys"). Diese Gewohnheit ist bei der Lektüre offensichtlich und für mich als Leser oft Anlass zur Freude - ich weiß es sehr zu schätzen, wenn ein Autor mir k e i n e haarsträubenden Zufälle zumutet. Leider wirken die fünf Hauptdarsteller aber genauso am Reißbrett geplant wie die Handlung. Das soll heißen: Ich könnte jeden von ihnen auf zwei oder drei Eigenschaften reduzieren. Die Figuren haben schlicht keine Luft zum Atmen. Entsprechend (?) könnten manche ihrer großen Reden direkt aus einem der alten Hollywoodfilme stammen, die während des Karnevals in Saint John (atmosphärisch beeindruckend) auf allen Häuserwänden vor sich hin flimmern. (Das Fragezeichen im vorigen Satz entstammt meiner Überlegung, ob exzessives Filmekucken womöglich zwangsläufig auf das Sprachverhalten des Kuckers abfärbt.)
Und noch ein Kritikpunkt zum Schluss: Auch dieses Buch glaubt, nicht ohne Thrillerelemente und Action auskommen zu können. In jedem der Handlungsstränge kracht es früher oder später, und m e h r m a l s (SEUFZ!) entgehen die Protagonisten nur um Haaresbreite dem Tode. Ian McDonald meint dazu: "Where there's change, there's conflict and where there's conflict, you have story." Und: "I like ordinary people who get catapulted into extraordinary events ..." Nun bin ich durchaus nicht grundsätzlich gegen Gewalt in Büchern, aber mir reicht - besonders in einer so faszinierenden Welt wie diesem L.A. des 22. Jahrhunderts - völlig die Beschreibung des menschlichen Alltags, gewöhnlicher Konflikte.
Dazu würde ich durchaus noch die Versuche Santiagos zählen (des Protagonisten, dem der Autor als einzigem kaum Mitgefühl gönnt), in Saint John gemeinsam mit zwei Totengangs ein klassisches Ego-Shooter-Game real durchzuspielen, um endlich einmal wieder tiefe Gefühle zu empfinden (`no risk, no fun’). Zumindest für die Toten besteht dabei keine echte Gefahr - ihre Nano-Tech flickt sie immer wieder zusammen. Folglich spielen sich hier ziemlich blutige, aber für sie alltägliche Szenen ab. Am besten gefiel mir der `friedlichste’ Handlungsstrang, um den sterbenskranken Meeresbiologen Camaguey, der sich einst beim Sex mit einer Art Nano-Tech-Aids ansteckte und nun von der (`heiligen’) Totenhure Irris (eine Klischeefigur, aber trotzdem angenehm) mit dem Gedanken an das eigene Ableben versöhnt wird. (In diesem Strang thematisiert McDonald nebenbei die nahe liegende Frage, inwiefern das exakte Abbild eines Menschen wirklich mit diesem identisch ist - ein Problem, das jedem Star-Trek-Fan seit dem ersten Beamen bekannt ist.)
Die anderen drei Geschichten bleiben eher unbefriedigend, und neben der schwachen Charakterzeichnung liegt das vor allem daran, dass die Anwältin YoYo in eine hanebüchene Verschwörungsstory verstrickt wird und der Firmenerbe Toussaint Tesler in den special-effect-lastigen Mittelpunkt der Auseinandersetzung zwischen den Lebenden und den Toten from Outer Space gerät (gähn!). Trinidad schließlich, die Frau mit den ständig wechselnden Beziehungskisten, ist das gröbste Abziehbild im Roman und inhaltlich nur dazu da, einen Nebengedanken McDonalds abzuhaken (`Kann Nano-Tech auch lebende Menschen unsterblich machen?’)
Bleibt als Gesamteindruck ein Auf und Ab zwischen Himmel und Hölle. Einiges an diesem Buch war wunderbar, anderes allzu bekannt - und manches Satzgefüge entnervend. Immerhin reicht das aus, um mich nicht für längere Zeit abzuschrecken.
* Sämtliche wortwörtliche Aussagen Ian McDonalds entstammen einem Interview auf infinityplus.co.uk.