Titel: Mulholland Drive - Straße der Finsternis Eine Besprechung / Rezension von Andreas C. Lazar |
"Es ist alles Morpheus' Schuld!"; unmotiviert-voyeuristische Sexszenen; in Dampfschwaden aus der Nebelmaschine mit einem Blitzen verschwindende Figuren; angefangene, aber nicht zu Ende geführte Handlungsfäden, lose und traurig wie die Reste eines aufgeribbelten Alpakapullovers. Schund, Kitsch und Tand, empört sich der leidenschaftliche Kinogänger und bleibt derartig beleumundeten Machwerken so fern wie einer Romeo und Julia-Verfilmung mit Bob Hope und Roseanne Barr.
Es sei denn, der Regisseur der angeblichen Zelluloidverschwendung, die sich alsbald als wahre Perle entpuppt, heißt David Lynch und sein Film Mulholland Drive. So charmant, gekonnt und atmosphärisch jongliert der Höhlenforscher mysteriös-menschlicher Abgründe mit eigentlich sattsam bekannten Versatzstücken, daß sie wie blitzend brandneu scheinen, einen tiefen Sinn bekommen und für furchtbare Überraschungen ebenso wie für aufregend sinnliche und zutiefst bewegende Momente sorgen, die auch nur im Ansatz zu verraten ein Frevel an Lynch wie an allen noch nicht seiner neuesten Schöpfung teilhaftig gewordenen zukünftigen Zuschauern wäre.
Ganz ohne Inhaltsangabe fällt eine ausführliche Rezension freilich schwer, und so möge, wer fürchtet, sich den Genuß zu verderben, an dieser Stelle aufhören, ins Kino gehen, Mulholland Drive mit einer uneingeschränkten Empfehlung zum Geleit ansehen und dann zurückkehren, um fertigzulesen. Auch mutigeren oder bereits eingeweihten Naturen sei ein wiederholter Besuch dieses berückenden Meisterwerks freudig ans Herz gelegt - aber nachher bitte trotzdem weiterlesen!
Für Novizen wie Initiierte fängt Lynchs Film (fast) mit wackelnden Scheinwerfern an, die das Straßenschild des kurvenreichen Mulholland Drive erhellen. Im Fond einer schwarzen Limousine sitzt die - Neues aus Kalau, wieder mal - ebenso kurvige Rita, eine reife, dunkelhaarige Schönheit mit herrlich roten Lippen, von der bislang fast unbekannten Laura Elena Harring faszinierend als moderne Version einer eleganten Filmdiva vergangener Tage gegeben. Rita verliert ihr Gedächtnis, kommt aber nach einigen aufregenden Verwicklungen bei der soeben in L.A. gelandeten, aus dem kanadischen Flecken Deep River stammenden angehenden Schauspielerin Betty Elms unter, die von Naomi Watts bewundernswert intensiv gespielt wird.
Hätten Lynch und sein kreativer Kameramann Peter Deming ab hier die beiden Protagonistinnen vor eine weiße Wand postiert und nur ab und zu blinzeln lassen, um zu zeigen, daß sie noch leben, es wäre auch dies mehr als gut gewesen. Denn so vollkommen harmonieren die blonde Watts und die schwarzhaarige Harring, so einzigartig ergänzen sich die energiegeladene Kanadierin und die verschüchterte Amerikanerin, so sympathisch meistern die beiden ungleichen Freundinnen alle aufkommenden Gefahren, daß man ihnen auf immer zusehen könnte.
Allein, so wie jeder Traum einmal endet, so sind auch Watts und Harring nur so lange beisammen, bis das Licht im Projektor aus- und jenes im Saal angeht. Bis dahin jedoch stehen sie, nur kurz getrennt und von eher humorig-skurrilen, aber dennoch gelungenen Szenen mit einem überzeugenden Justin Theroux als exzentrischem Filmregisseur Adam Kesher unterbrochen, ein aufregendes Casting, einen unangemeldeten Hausbesuch und eine schlaflose Nacht durch, bis sie vom grimmig klaffenden Maul des Nachtclubs Silencio gleichsam verschlungen werden; und ist dem (vermutlich blinden, tauben, nasen-, zungen-, arm- und beinlosen) Zuschauer bis dahin nicht aufgefallen, wie präzise noch der kleinste Nebendarsteller agiert, wie hypnotisch die suggestive Kameraführung und die aufreibende Musik in ihren Bann zu ziehen vermögen und wie clever David Lynch sein Publikum fesseln kann, spätestens hier wird er es endlich bemerken: die Schlüsselsequenz des gesamten Filmes ist von so träumerischer Schönheit, Intensität und Wehmut, daß keine Steigerung mehr möglich scheint.
Tatsächlich ist Mulholland Drive im Silencio am Ende seines Mysteriums angelangt und entrollt sich nun in für Lynch geradezu bemerkenswert logischer Weise bis zu seinem endgültigen Finale, das im Rückgriff auf eine bekannte Figur Boris Vians den Übergang aus der virtuellen Stadt der Träume in die muffige Realität des Kinosaals etwas ruppig, aber letztlich konsequent gestaltet. Zurück bleiben so zwar nicht mehr viele Rätsel, aber das wohlig-warme Wissen, ein handwerklich innovatives, umwerfend gespieltes und immer packendes Kinokunstwerk gesehen zu haben. Der Vorhang zu und keine Fragen offen - Silencio. Zum Glück aber ohne Schlafes Bruder.
4.5 von 5 Sternen