Serie: ~ Eine Besprechung / Rezension von Rainer Skupsch |
[Jorge Luis Borges und Adolfo Bioy Casares 1940 / Foto-Copyrights: Public Domain]
Der bekannteste eigenständige Beitrag Argentiniens zur Weltliteratur des 20. Jahrhunderts waren die phantastischen Werke der Gruppe um Jorge Luis Borges. Eine Ursache für das Entstehen der Gruppe ist sicher in der Stagnation der modernen Literatur Argentiniens zwischen den Weltkriegen zu suchen. Deren Naturalismus und Neigung zur Psychologisierung lehnte Borges als mittlerweile langweilig ab, sowohl in seinen eigenen Arbeiten als auch im Vorwort zum ersten Roman der Bewegung, Adolfo Bioy Casares' Morels Erfindung. In diesem Vorwort fordert Borges, Autoren sollten der äußeren Handlung und Spannungselementen den Vorrang vor den inneren Beweggründen ihrer Charaktere geben.
Borges' eigene Texte geben sich oft als vollkommen realistische Erzählungen, in die nach und nach phantastische Elemente eindringen und den Leser verunsichern. In einer seiner Geschichten ("Tlön, Uqbar, Orbis Tertius") etwa entdecken er und Bioy Casares als fiktionale Charaktere Aufzeichnungen über ein phantastisches Reich, in das sich unsere Welt langsam verwandelt. Heute gilt als Borges' wichtigster Beitrag zur lateinamerikanischen Literatur sein Streben nach stilistischer Prägnanz und Kürze. Morels Erfindung zeigt in vielen Einzelheiten Borges' Einfluss auf seinen Freund Bioy Casares:
Ein (wegen eines ungenannten Verbrechens) zu lebenslanger Haft verurteilter Mann ist einem venezolanischen Gefängnis entkommen und hat sich auf Umwegen zu einer winzigen Insel durchgeschlagen, auf der Europäer im Jahre 1924 ein Museum, eine Kapelle sowie ein Schwimmbecken erbauten. Dort lebt der Mann einsam und in ständiger Furcht vor Entdeckung - bis eines Tages wie aus dem Nichts eine Gruppe eleganter Urlauber erscheint. Panisch flüchtet der Mann in die sumpfigen Niederungen am Südufer und beobachtet fortan aus dem Verborgenen das Treiben der Neuankömmlinge. Bald fällt ihm eine schöne Frau auf, die sich jeden Abend an den westlichen Klippen einfindet, um dort den Sonnenuntergang zu erleben. [Anm.: Das Titelbild der unten abgebildeten spanischen Romanausgabe zeigt einen Grundriss der Insel.] Der Mann verliebt sich in Faustine, das Objekt seiner Beobachtungen, muss aber feststellen, dass er einen Rivalen hat: ein Mitglied der Gruppe namens Morel, der sie oft begleitet. Der Flüchtling überwindet seine Angst vor Entdeckung und zeigt sich seiner Angebeteten, doch diese ignoriert ihn vollkommen - eine schreckliche Demütigung. Schließlich fällt ihm auf, dass sich manche Ereignisse zwischen den Urlaubern zu wiederholen scheinen. Halluziniert er? Leidet er an den Folgen einer Lebensmittelvergiftung? Oder wird er langsam wahnsinnig? Erst als er sich eines Tages ins Museum schleicht und die Fremden belauscht, beginnt er die Zusammenhänge zu verstehen.
Adolfo Bioy Casares' phantastische Geschichte besteht aus den in der Ich-Form gehaltenen Notizen des entlaufenen Sträflings - sowie einigen Fußnoten eines anonymen Herausgebers. Bereits auf Seite 11 erklärt der Erzähler:
"Ich habe das unbehagliche Gefühl, daß diese Niederschrift auf ein Testament hinausläuft. Sollte mir dieses Los beschieden sein, muß dafür gesorgt werden, daß meine Behauptungen nachprüfbar sind, damit kein Mensch, der mich früher einmal falscher Aussagen verdächtigt hat, meine Versicherung, ich sei ungerecht verurteilt worden, für Lüge halten kann. Ich werde diesem Bericht den Wahlspruch Leonardos - 'Ostinato rigore' - voranstellen und bestrebt sein, ihm nachzuleben."
Der Mann verfasst seine Aufzeichnungen im Präsens. Es scheint keine zeitliche Verzögerung zu existieren zwischen den Geschehnissen und dem Schreibakt. Die Erzählung entwickelt sich dabei zuerst völlig realistisch. Der Leser ist ebenso unwissend wie die Hauptfigur. Im Verlaufe der Handlung fallen jedoch immer wieder Andeutungen, tauchen Indizien auf, die eine für das Krimigenre typische Spannung erzeugen. In mancher Hinsicht entpuppt sich das Buch auch wirklich als Kriminalroman. Dass der Leser lange vor dem Erzähler die Wahrheit ahnt, ist sicher der Tatsache geschuldet, dass seit der Erstveröffentlichung von Morels Erfindung im Bereich der Science Fiction hunderte thematisch ähnliche Werke geschrieben wurden.
Der Begriff der "Science Fiction" weist schon darauf hin: Die Auflösung der Geschichte ist phantastisch, aber nicht übernatürlich. Dies im Detail zu erläutern ist leider nicht möglich, ohne das Ende preiszugeben. Darum zuerst noch eine generelle Bemerkung: Jeder Interpretationsansatz dieses Romans muss mit einer Prise Skepsis genossen werden, da mir der Erzähler nicht annähernd so vertrauenswürdig erscheint, wie er in dem o.a. Zitat behauptet. Das beginnt schon mit der Beschreibung seiner Flucht zur Insel: Erst verbringt er Tage in einen Teppich eingerollt in Kalkutta, reist dann mit einem Frachter und einem Empfehlungsschreiben an einen hochgestellten Sizilianer nach Rabaul und rudert schließlich ohne nautische Kenntnisse "unter einem metallen gleißenden Mond" zum Ziel. Aber nicht nur diese Reise scheint märchenhaft. Kann man wirklich bis zur Brust im Sumpf stehen und gleichzeitig an einem Roman schreiben? Und was ist von dem Herausgeber zu halten, dessen Identität ungeklärt bleibt?
Morels Erfindung ist u.a. eine Robinsonade. Daneben macht das Buch offensichtliche Anleihen bei H.G. Wells' Die Insel des Doktor Moreau (Moreau-Morel-Moral) und ist auch noch ein Liebesroman. Der Urlauber Morel - und, Vorsicht, ab hier verrate ich den Inhalt - ist die Figur des wahnsinnigen Wissenschaftlers, der um des technologischen Fortschritts willen über Leichen gegangen ist. Er hat eine Technologie entwickelt, die es erlaubt, holographische Aufnahmen zu machen und später abzuspielen. Vor Jahren schon lud er eine Reihe Freunde auf die Insel ein und nahm alles, was sie taten, eine Woche lang auf. Dann reiste die Gesellschaft wieder ab - und starb irgendwann an der `Strahlung', der sie während der Aufnahme ausgesetzt war. Durch seine Erfindung hat Morel für sich und die anderen eine Art Unsterblichkeit geschaffen; denn solange seine durch die Kraft der Gezeiten angetriebene Projektionsmaschine funktioniert, wird er immer wieder über die Insel wandeln und Faustine den Hof machen.
Aber wird er dadurch zu mehr als einer Person in einem Film? Dies ist die Frage, die sich letztlich auch der Erzähler stellt. An einer Stelle setzt er die Einsamkeit mit dem Tod gleich und die Liebe mit dem Leben. Als er erkennt, dass seine geliebte Faustine nur (?) das Abbild einer Verstorbenen ist, entschließt er sich, Teil ihres Lebens zu werden. Er stellt Morels Maschine noch einmal eine Woche auf Aufnahme und begleitet in dieser Zeit die im Leben Unerreichbare. Bevor er stirbt, kann er noch zufrieden das Resultat seiner Bemühungen betrachten. Was er nicht weiß ist, ob seine Kopie ein intelligentes Duplikat ihres Vorbilds ist und von nun an jede Woche neu die große Liebe finden wird - oder schlicht eine High-Tech-Puppe.
Adolfo Bioy Casares' erster Roman ist kurz, knapp, intelligent und interessant - als mitreißend empfand ich ihn nicht. Das Buch gehört mittlerweile zum Kanon der Weltliteratur, aber womöglich ist es eines der Werke, deren Bedeutung primär historisch ist. Es hat der Phantastik einerseits Türen geöffnet, andererseits aber auch viele Nachahmer gefunden, deren Romane sich vor dem Original nicht zu verstecken brauchen.
[Anmerkung: Die von mir rezensierte Ausgabe des Romans enthält das berühmte Vorwort Borges', in dem viele Ziele der argentinischen Phantastik angesprochen werden. In der 2003, ebenfalls bei Suhrkamp, erschienen Neuübersetzung von Gisbert Haefs fehlt dieses Vorwort. Dafür beinhaltet die Ausgabe ein (laut FAZ-Rezension) "ausgezeichnetes Nachwort von René Strien."]