Titel: Marsianischer Zeitsturz (2002) aka Mozart für Marsianer (1973) Rezensierte Ausgabe: Mozart für Marsianer Eine Besprechung / Rezension von Rainer Skupsch |
In den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts ist der Mars eine irdische Kolonie, die nur mit Mühe über die Runden kommt. Der überaus fähige Handwerker (Repairman) Jack Bohlen ist vor vielen Jahren nach einem schizophrenen Anfall hierher geflohen, in die Sorte naturbelassenen Grenzlands, das es auf der hektischen, überbevölkerten Erde schon lang nicht mehr gab.
Aber auch auf dem Mars ändern sich die Zeiten. Jacks Vater Leo, ein Bodenspekulant, kündigt seinen Besuch an, weil er erfahren hat, dass die irdische Wohnungsbaugenossenschaft Co-op riesige Apartmentkomplexe in den völlig unfruchtbaren F.D.R. Mountains errichten will. Leo wittert das Schnäppchen seines Lebens: Er will das noch spottbillige Gebiet vor Ort erwerben und dann mit großem Gewinn weiterverkaufen. Auch Arnie Kott, der so mächtige wie machtbesessene Präsident der Kanalarbeitergewerkschaft, wittert den Braten, kommt jedoch zu spät: Leo Bohlen hat seinen Claim bereits angemeldet.
So schnell will Kott aber nicht aufstecken. Als Jack Bohlens Nachbar Norbert Steiner unter mysteriösen Umständen Selbstmord begeht, verschafft sich Kott Zugang zu Steiners autistischem Sohn Manfred. Er hofft, das seltsame Kind dazu bringen zu können, ihn per Zeitsprung in die Vergangenheit zurückzuversetzen, damit er Leo Bohlen doch noch zuvorkommen kann. Nur, um das zu schaffen, muss er erst einmal Kontakt zu Manfred herstellen, was bisher noch niemandem gelungen ist. Kott engagiert Jack Bohlen dafür, ihm zu diesem Zweck eine Apparatur zu konstruieren. Jack nimmt den Auftrag an. Im täglichen Kontakt mit Manfred und dessen bizarren Geisteskräften kämpft er bald verzweifelt um seine geistige Gesundheit ...
Philip K. Dicks Roman aus dem Jahre 1964 spielt in einer Gesellschaft, die sich gar nicht sehr von dem unterscheidet, was man zur gleichen Zeit auf der Erde vorfinden konnte. Lässt man einmal die paranormalen Geisteskräfte außer Betracht, so war fast alles in Dicks Buch seinen Zeitgenossen vertraut: die Technologie ebenso wie die Vorortsiedlungen mit gelangweilten Hausfrauen; die Benachteiligung von Minderheiten genauso wie all die menschlichen Schwächen der handelnden Personen; die Konzentration von Macht in den Händen einer Minderheit.
All dies spielt eine Rolle, ist aber andererseits meist nur Symptom des eigentlichen Romanthemas. Dick war sicher nicht daran interessiert, Voraussagen über die Technik von morgen zu machen. Auf seinem Mars gibt es noch Tonbandgeräte und Stenotypistinnen; Raketen sind lediglich irgendwelche Transportmittel. Dick geht es viel mehr darum aufzuzeigen, was die Folge ist, wenn sich der Mensch seiner wahren Natur und seinen Mitmenschen entfremdet. Und natürlich geht es ihm - wie immer - um die Fragen "Was ist Wirklichkeit?" und "Was ist normal?"
Dies illustriert er mithilfe von Figuren, die mit Ausnahme Jack Bohlens kaum als eigenständige Charaktere überzeugen. Jeff VanderMeer schrieb neulich (genauer gesagt, am 22.8.07) in seinem Blog: "In Dick, your Everyman main character may have the trappings [dt.: Schmuck] of characterization, but almost everyone else tends to be made of cardboard." Jack Bohlen, die Hauptperson des Romans, ist ein ganz normaler Mensch 'wie du und ich' und redlich bemüht, mit seinen bescheidenen Mitteln sich und die Welt instand zu halten. Ihm zur Seite steht eine ganze Reihe von 'Typen', die nur wenige Eigenschaften besitzen:
- Arnie Kott z. B., Jacks Gegenspieler, zeichnet hauptsächlich seine Gier nach Geld und Macht, seine Impulsivität, seine Egozentrik und sein Rassismus aus;
- Arnies Mätresse Doreen Anderton ist die Hure mit Herz;
- Leo Bohlen ist der konservative Kapitalist, dem die Institution Familie noch wichtig ist;
- Doktor Glaub ist der neurotische Psychiater mit Berufsethos;
- Silvia Bohlen ist nicht nur gelangweilt, sondern auch knickerig, neugierig und Befürworterin der Euthanasie für "anormale" Kinder..
- Otto Zitte ist der notorische Damenbeglücker. ('Wenn der Schwarzmarkthändler zweimal klingelt.')
In Philip K. Dicks Romanen geschehen eine Menge gruselige Dinge. Trotzdem ist die Atmosphäre dieser Bücher nie tragisch. Dick besitzt einen trockenen wie beißenden Sinn für Humor. Kaum je reißt er wirklich Witze; dafür versteht er es, Situationskomik so einzusetzen, dass der Leser gut unterhalten wird und recht gelassen am Ball bleibt. Dick verfolgt im Martian Time-Slip mehrere Ziele, und eines davon ist, eine Sittenkomödie, eine Art 'Jahrmarkt der Eitelkeiten' zu entwerfen. Alle seine Typen besitzen offensichtlich ausgeprägte Schwächen, manchmal beweisen sie aber auch so etwas wie menschliche Größe. Wenn etwa Norbert Steiner stirbt, murmelt der völlig gleichgültige Arnie Kott etwas von "Schicksal", während Doktor Glaub einzig daran denkt, wieviel Mehrarbeit ihm durch diesen Tod entstehen wird. Andererseits riskiert er später uneigennützig seine Karriere, als Jack Bohlen droht durch seinen Umgang mit Manfred den Verstand zu verlieren. Glaub ist als Psychiater für seinen Erschaffer eine dankbare Figur. Wenn er sich in einem inneren Monolog (eines von Dicks bevorzugten Stilmitteln) selbst analysiert, finde ich das sehr komisch: "'Nein, so geht es nicht. Ich bin keiner von den psychologischen Fällen, die sich rächen wollen - das täte nur ein Analfixierter oder Oralfixierter.' Und er hatte sich vor langer Zeit schon klassifiziert als den spätgenitalen Typus, für den reife Geschlechtsbeziehungen typisch sind." - Ebenso lustig - weil herrlich schmierig und unromantisch - ist etwa die Szene, in der Otto Zitte Silvia Bohlen ins Bett bugsiert.
Neben den menschlichen Schwächen interessieren Dick auch die der Gesellschaft als Ganzes. Die (genetisch mit den 'Erdlingen' verwandte) marsianische Urbevölkerung wird von ihren Eroberern verachtet und missbraucht. Exemplarisch tut sich besonders Arnie Kott in dieser Hinsicht hervor. Er versklavt skrupellos die Ureinwohner (für die Dick sicherlich die australischen Aborigines Pate standen), beschimpft sie als "Nigger" und "Dunkelmänner" (im Original: "bleekmen", ähnlich dem Schimpfwort 'darkies' für Afro-Amerikaner). Außerdem besitzt er als Gewerkschaftsboss eine enorme Machtfülle, die er konsequent für sich ausnutzt. (Ich frage mich, ob dem Autor 1964 der zwielichtige Gewerkschaftsführer Jimmy Hoffa als Vorbild diente.) Zu viel Macht korrumpiert aber nicht nur Kott. Die Vereinten Nationen als oberste Ordnungskraft des Mars treten in die Fußstapfen der Nazis und planen ein Euthanasie-Projekt: Alle radioaktiv verstrahlten bzw. psychisch "anormalen" Kinder sollen beseitigt werden, um die genetische 'Reinheit' der Kolonisten zu sichern.
Wie schon erwähnt, geht es Dick auch in diesem Buch um die Fragen "Was ist Wirklichkeit?" und "Was ist normal?" Manfred Steiner besitzt die Fähigkeit, die subjektive Realität anderer Menschen zu verändern. So lässt er z. B. Jack Bohlen ein und dieselbe Szene (in der Mozarts Jupiter-Sinfonie gespielt wird - daher der Titel Mozart für Marsianer) mehrmals und in immer groteskerer Form erleben. Gleichzeitig gehört Manfred zu den "Anormalen", den Menschen, die die UN gern beseitigt sähe. Dabei fehlt ihm nur die Fähigkeit zu 'normaler' Kommunikation. Als er am Ende mit Unterstützung der Marsianer zu sich selbst gefunden hat, gelingt ihm auch das.
Das Problem der Selbstentfremdung und Selbstfindung liegt Dick offenbar im Martian Time-Slip am meisten am Herzen. Man erkennt das schon daran, dass sich der Autor bei der Diskussion dieses Themas ganz der Ironie enthält. Jack Bohlen hat die Erde nach einem schizophrenen Anfall verlassen. Durch diese Episode wird er aber für Dick in keiner Weise zu einem 'Freak'. Ganz im Gegenteil erläutert Dick ausführlich - im Umweg über seine Hauptperson -, Schizophrenie häufe sich in modernen Massengesellschaften immer mehr. In der Gegenwart seines Romans sei bereits jeder sechste Mensch gelegentlich schizophren. Grund für diese Entwicklung sei eine wachsende Entfremdung der Menschen von ihrer Natur, ihrem wahren Ich. Als Beispiel nimmt Dick die Schule, die auch Jack Bohlens Sohn besucht. Hier lehren Simulacra (Roboter) ihre Schüler ausschließlich Werte, die sich auf die Vergangenheit der Erde beziehen, jedoch nichts mit der Gegenwart auf dem Mars zu tun haben. Zwangsläufig kommt es zu einer Entfremdung der Kinder von ihrem Alltag. Auf sie wird großer Druck ausgeübt, sich innerlich zu verbiegen; denn allen, die das nicht tun und in der Schule scheitern, droht wie Manfred Steiner die Abschiebung ins Ben-Gurion-Camp für 'Anormale'.
Ist aber ein Mensch erst einmal schizophren, entfremdet er sich in einem zweiten Schritt auch von den Mitmenschen, die ihm viel bedeuteten, und wird zum Autisten, der sich von der Umwelt abkapselt. Dies ist die Gefahr, in der Jack Bohlen schwebt unddie er letztlich mithilfe der Menschen, die ihn mögen, überwindet. Am Ende ist die Welt nicht viel besser geworden, aber Jack ist auch nicht zu Boden gegangen. In der letzten Szene sucht er - ganz soziales Wesen - seine verirrte Nachbarin, und Dick beschreibt ihn dabei als "sachlich, fachmännisch und geduldig". Was kann man Besseres über einen Repairman sagen?
Mehrere Dinge gefallen mir gewöhnlich an Philip-K.-Dick-Romanen. Vor allem ist hier sein Humor zu nennen, der, in Verbindung mit einer s e h r schlichten/kunstlosen Sprache dem Leser die Arbeit erleichtert. Das, in Kombination mit einer heute schon irreal altmodischen Szenerie, übt immer wieder einen gewissen Reiz auf mich aus. Die Themen, die Dick wahrscheinlich viel mehr interessierten - wie die Zerbrechlichkeit der Realität - nehme ich nur noch als schmückendes Beiwerk wahr. Vielleicht bin ich deshalb auch ein großer Fan von Dicks Roman Der galaktische Topfheiler, der zu meiner Freude fast völlig sinnfrei ist und hiermit allen Interessierten empfohlen sei.
Marsianischer Zeitsturz - zur Rezension von Rupert Schwarz