Serie/Reihe: Märchenalmanache für Söhne und Töchter gebildeter Stände (1826-1828) Eine Besprechung / Rezension von Rainer Skupsch |
Der Begriff "Almanach" stammt offenbar aus dem Arabischen und wurde schon in der Antike für astronomische Tabellenwerke verwendet. Ab dem Mittelalter erweiterte sich die Namensbedeutung auf Kalenderwerke zu den verschiedensten Themen. Im 18. Jahrhundert schließlich kam in Deutschland der sogenannte Musenalmanach auf, der primär eine belletristische Anthologie darstellen wollte. Besonderes literarisches Ansehen errang der zwischen 1796 und 1800 von Schiller herausgegebene Musenalmanach, in dem kurze literarische Texte aller wichtigen zeitgenössischen Autoren veröffentlicht wurden.
Ihre wirtschaftlich größte Bedeutung erreichten literarische Almanache in der Restaurationszeit zwischen 1820 und 1830. Meist richteten sie sich an ein bürgerliches Publikum, das von Geschichten in Novellenlänge angenehm unterhalten werden wollte. Wilhelm Hauffs drei in den Jahren 1825-1827 erschienene Märchen-Almanache waren Bestandteil einer größeren literarischen Mode und zeigten bereits in ihrem Titel, wo sie ihre potenzielle Kundschaft vermuteten, nämlich unter den "Töchtern und Söhnen gebildeter Stände". Hauffs erster Almanach war stark von den Geschichten aus 1001 Nacht beeinflusst, von denen im frühen 19. Jahrhundert erste (stark gekürzte) Übersetzungen in Deutschland erschienen waren.
Inhaltlich wusste sich der Autor damit auf der sicheren Seite. Wie seine beiden Nachfolger ist der Märchenalmanach auf das Jahr 1826 so aufgebaut, dass mehrere Märchen in eine Rahmenhandlung eingebettet sind. Im vorliegenden Fall spielt diese in der zeitgenössischen Gegenwart und nimmt einmal sogar Bezug auf die 'gar schlimmen' Geschehnisse der Französischen Revolutionszeit - eine Passage, die den Zensoren in allen Ecken Deutschlands gefallen haben dürfte. Ansonsten aber spielen die Erzählungen mit einer Ausnahme im arabischen Raum, zwischen Kairo und Mekka, zwischen Bagdad und dem Indischen Ozean. Dabei gelingt es Hauff in einer kunstlos und lebhaft wirkenden Prosa, Humorvolles mit Abenteuerlichem und Nachdenklichem zu vermengen und durchaus auch realitätsnahe Passagen unterzubringen.
Zum Inhalt:
Dem eigentlichen Almanach ist eine allegorische Einleitung mit dem Titel Märchen als Almanach vorangestellt. Darin beklagt sich "Prinzessin Märchen" bei ihrer Mutter, "Königin Phantasie", darüber, wie grob sie von den "Wächtern der Menschen" (lies: Literaturkritikern) behandelt werde. Phantasie schenkt ihrer Tochter daraufhin ein schönes "Gewand des Almanachs" (weil das gerade so beliebt ist) und gibt ihr den Rat, sich nur an Kinder und junge Leute zu wenden. Auch in den kältesten Zeiten würden Kinder träumen, wüssten junge Männer abenteuerliche Geschichten und junge Frauen schöne Kleider zu schätzen. Prinzessin Märchen tut wie geheißen und kehrt zurück zu den Menschen. Zwar verhöhnen sie die Wächter am Stadttor weiterhin; als diese jedoch eingeschlafen sind, schlüpft sie an ihnen vorbei und findet endlich geneigte Zuhörer.
Es beginnt die eigentliche Handlung: In der Rahmenerzählung Die Karawane befinden sich fünf Kaufleute mit ihrer großen Handelskarawane auf der Rückreise von Mekka nach Kairo, als sich ihnen mitten in der Wüste ein fremder Reiter nähert. Der Mann gibt an, erst drei Tage zuvor aus der Gefangenschaft einer Räuberbande entflohen zu sein; die Händler erlauben ihm die Mitreise. Als am nächsten Lagerplatz der jüngste Kaufmann die ewige Langeweile der Mittagsruhe beklagt (man reist natürlich nur des Nachts und Morgens), schlägt der Fremde vor, jeden Tag solle einer von ihnen eine Geschichte vortragen, damit die Rastzeit angenehmer werde. Er selbst macht den Anfang und erzählt Die Geschichte vom Kalif Storch (das einzige Märchen des Buches, das Hauff direkt aus Tausendundeine Nacht übernommen hat:
Chasid, der Kalif von Bagdad, und sein alter Großwesir werden von dem bösen Zauberer Kaschmur in Störche verwandelt. Die beiden Männer beschließen, nach Medina zu fliegen, in der Hoffnung, womöglich an heiliger Stätte ihre alten Körper zurückzuerhalten. Unterwegs entdecken sie in einem alten Gemäuer eine weinende Nachteule, die behauptet, sie sei die verzauberte Tochter des Königs von Indien. Sie erklärt sich bereit, den Männern zu helfen, wenn im Gegenzug einer von ihnen schwöre, sie, die Eule, zu heiraten und damit ihren Fluch aufzuheben. Ein nicht geringes Ansinnen, und so gehen Kalif und Großwesir erst einmal zwecks Palaver vor die Tür. Letztlich beißt Chasid in den sauren Apfel, der sich dann als aufregend süß entpuppt.
Interessant an dieser Geschichte sind vor allem Kleinigkeiten: Der 'gute' Kalif denkt sich offenbar nichts dabei, einem seiner Gelehrten die Prügelstrafe anzudrohen für den Fall, dass der ihm nicht ein Problem löst. Die Diskussion zwischen Kalif und Großwesir darüber, wer die Katze, äh Eule, im Sack kauft, zeugt von Humor. Und der Bösewicht wird am Ende umstandslos aufgeknüpft. - Harte Zeiten, harte Sitten.
Am folgenden Tag erzählt der älteste Kaufmann eine wahre Begebenheit aus seiner Jugend, Die Geschichte von dem Gespensterschiff: Als 18-jährige Waise begibt sich Ahmet mit seinem letzten Geld und seinem treuen Diener Ibrahim auf eine Seereise nach Indien. Fern aller Gestade gerät sein Schiff jedoch während eines nächtlichen Sturms auf eine Untiefe und sinkt. Als der Morgen naht, nähert sich endlich ein Schiff. Achmet und Ibrahim klettern an einem herabhängenden Tau an Bord und entdecken die Folgen eines Gemetzels: Die blutigen Leichen von 20-30 türkischen Seeleuten liegen über das Deck verstreut. Als Einziger steht noch der Kapitän auf seinen Beinen - ihm wurde ein Nagel durch den Kopf und in den Mastbaum getrieben.
Führerlos auf dem Totenschiff dahintreibend, erleben die zwei Schiffbrüchigen nun jede Nacht dieselben grausigen Szenen: Die Seleute erwachen zu neuem Leben, meutern gegen ihren Kapitän und schlachten sich gegenseitig ab. Zum Glück ist der alte Ibrahim ein gläubiger Moslem und weiß sich und seinem Herrn zu helfen. Ende gut, alles gut, auch für die untoten Türken.
Als Nächstes ist der 'ungläubige' (weil griechische) Kaufmann Zaleukos an der Reihe. Er erzählt Die Geschichte von der abgehauenen Hand: Vor Jahren bot ihm in Florenz eines Nachts ein mit einem roten Mantel verkleideter Unbekannter viel Geld dafür, einem toten Mädchen den Kopf abzutrennen, damit er wenigstens diesen dem in der Fremde lebenden Vater der Frau schicken könne. Zaleukos reizt das Geld; er tut das Verlangte. Als er den entscheidenden Schnitt ausführt, öffnet das Mädchen jedoch die Augen und verstirbt. Am nächsten Tag wird Zaleukos verhaftet und bald zum Tode verurteilt. Nur dem Einschreiten eines Freundes ist es zu verdanken, dass die Strafe reduziert wird: Zaleukos wird die linke Hand abgehackt. Als er verzweifelt in seine Heimatstadt Konstantinopel zurückkehrt, hat ihm dort ein Fremder im roten Mantel inzwischen ein Haus gekauft. Die Hintergründe dieser Geschichte klärt erst die Rahmenerzählung.
Die Errettung Fatmes erzählt von der Suche Mustaphas nach seiner Schwester Fatme und seiner Verlobten Zoraide, die von Korsaren entführt und in die Sklaverei verkauft wurden. Mustapha versucht mit Verkleidungen und einem geheimnisvollen Trank, die Mädchen aus den Händen ihres neuen Herrn zu befreien. Letztlich ist es jedoch der hochherzige Räuberhauptmann Orbasan, der die Sklavinnen rettet. Der Kaufmann Lezah, der diese Geschichte erzählt (und im Übrigen ein Bruder des Mustapha ist) preist Orbasan in den höchsten Tönen.
In Die Geschichte von dem kleinen Muck stiehlt die kleinwüchsige Titelfigur der alten Vettel, die sie um ihren Lohn betrog, magische Pantoffeln und einen magischen Stock und schafft es mit Hilfe dieser Gegenstände, sich bei einem König beliebt zu machen. Unter den Höflingen schafft Muck das aber nur Neider. Er muss erfahren, dass man sich mit Geld keine Freunde gewinnen kann, und kehrt zurück in seine Geburtsstadt, wo er fortan ein zurückgezogenes und zufriedenes Leben führt.
Die letzte Erzählung, Das Märchen vom falschen Prinzen, handelt von einem Schneidergesellen mit der festen Überzeugung, dass es die Kleider sind, die einen Menschen ausmachen. Als er sich mit einem saudischen Prinzen anfreundet, der ob eines bösen Omens fern der Heimat aufgewachsen ist - und deshalb seine Eltern noch nie sah -, eilt er an den Königshof und gibt sich als verlorener Sohn aus. Natürlich geht sein Plan letztlich schief (Restaurationszeit!); dank einer gütigen Fee lernt der Schneider aber doch noch die Lektion "Schneider, bleib bei deiner Nadel" und lebt künftig ein Leben in bescheidenem Wohlstand.
Damit erreicht die Karawane Kairo und die Gesellschaft trennt sich. Die Rahmenerzählung endet damit, dass sich - nicht wirklich überraschend - der unbekannte Reisegefährte sowohl als der Räuber Orbasan als auch der Mann mit dem roten Mantel entpuppt. Kindlers Literaturlexikon findet an dieser Wendung beachtlich, dass dadurch eine Märchenfigur zum Märchenerzähler wird. Nun gut, meinetwegen.
Alles, was Wilhelm Hauff anpackte, geriet ihm zum Bestseller. Zu Lebzeiten (er starb bereits mit 25 Jahren, weil er eine Erkältung nicht ernst genug genommen hatte) beruhte sein Ruhm vor allem auf der Sir-Walter-Scott-Imitation Lichtenstein, ein Buch, das die Tradition des Historischen Romans in Deutschland begründete. Lichtenstein ist heute zurecht praktisch vergessen; Hauffs Märchen aber werden immer wieder neu aufgelegt - sie bieten kurzweilige Unterhaltung und Erzählungen, die schon wieder vorbei sind, bevor man noch eine Chance hat, sich zu langweilen.