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Eine Rezension von Judith Gor (Weitere Rezensionen von Judith Gor findet ihr hier auf fictionfantasy oder auf ihrer Website www.literatopia.de) |
Scarlett hat sich der Rebellion angeschlossen und dient ihr mit ihrem technisch verbesserten Körper. In ihrer Zeit ist sie ein Testmodell, halb Mensch, halb Maschine. Und sie liebt den Rebellenanführer Nium, der die Menschen mit seinen Schriften begeistert. Als sie entdeckt werden, wollen Scarlett und Nium in eine Stasiskammer steigen, um zehn Jahre zu schlafen und dann in der Zukunft die Rebellion neu aufzubauen. Doch Scarlett erwacht allein. 100 Jahre in der Zukunft. Nium ist fort, ein kurzer Brief liegt in seiner leeren Kammer, die nie funktioniert hat. Die Rebellion ist auf vier Personen zusammengeschrumpft, die sich dem allgegenwärtigen Netz widersetzen. Scarlett ist nun ein veraltetes Modell und hat keine Verbindung zum Netz – und genau das wollen die Rebellen nutzen, um endlich gegen die Gedankenkontrolle anzukommen …
Der Plot von Lost Ctrl (was man auch als Lost Control lesen kann) ist schon im ersten Band recht komplex: Zunächst lernt man Scarletts Vergangenheit und ihre große Liebe Nium kennen. Sofort spür man die Innigkeit ihrer Beziehung und die Bedrohung, die sie umgibt. So ist es ein Schock, als Scarlett allein in der Zukunft erwacht. Ihre Trauer lähmt sie zunächst, doch nach und nach fasst sie Vertrauen zu den verbliebenen Rebellen. Geweckt wird sie von Jeckyll, einer jungen Frau, und Tristan, dem Nachfahren des Wissenschaftlers, der sie in Stasis versetzt hat. Dann gibt es da noch Butler, einen Networker, der für die Rebellion arbeitet. Und Virus, der ununterbrochen mit dem Netz verbunden ist und die Identitäten der anderen Rebellen tarnt.
Virus erlebt man nur in einem meditationsähnlichen Zustand und so lässt sich über seine Persönlichkeit nicht viel sagen. Er opfert sich auf, um die anderen vor dem Auge des Netzes zu schützen. Jeckyll und Tristan dagegen sind zwei freundliche junge Menschen, die die Angst vor dem System stark gezeichnet hat. Denn in dieser Zukunftsvision sind alle jederzeit online, jeder Gedanke wird erfasst, analysiert und teilweise zensiert. Den Menschen wird vorgegeben, was sie zu denken und zu fühlen haben. Über der Stadt, unter der die Rebellen ihren Zufluchtsort haben, schwebt eine gigantische Cloud. Neben Virus ist Butler der einzige, der im Netz trotz allem Zuhause ist. Er operiert von außerhalb und unterstützt Scarlett bei ihren Außeneinsätzen. Denn auch wenn die Rebellion stark geschrumpft ist, haben ihre verbliebenen Mitglieder noch Ideen, wie man kleine Angriffe gegen das Netz starten kann.
Nachdem Scarlett in der Zukunft erwacht, konzentriert sich die Story vor allem darauf, die neue Welt und ihre neuen Wegbegleiter vorzustellen. Zudem muss sich Scarlett mit Niums Tod auseinandersetzen, trotzdem glaubt ein Teil von ihr, dass er noch lebt und sie wird von Alpträumen geplagt. Ob ihre Visionen reines Wunschdenken sind oder die Geschichte mit Nium doch noch nicht abgeschlossen ist, wird sich in den nächsten Bänden zeigen. Das Netz selbst ist für den Leser schwer zu erfassen, da es jede Gestalt annehmen kann. Auch Scarlett hat Probleme, sich online zurechtzufinden. Denn das Netz ist zu einer Art Parallelwelt geworden beziehungsweise erscheint es eher, als wäre die Realität die Parallelwelt und das Netz die neue und einzige Wirklichkeit für die Menschen. Die technischen Begrifflichkeiten werden von Evelyne Park meist sehr gut beschrieben – man muss sich allerdings auf diesen Drahtseilakt zwischen der virtuellen und der realen Welt einlassen.
Zeichnerisch überzeugt die aus der Schweiz stammende und nun in Korea lebende Mangaka mit feinen Linien und vielen technischen Details (da merkt man, dass sie „Scientific Visualization“ studiert hat). Besonders Scarletts Ohrantennen sehen einfach cool aus, ebenso wie die Cloud, die über der Stadt hängt. Auch bei der Kleidung hat sich Evelyne Park große Mühe gegeben und ihren Charakteren tolle futuristische Outfits verpasst. Die Protagonisten haben auch optisch individuelle Merkmale, die den Eindruck ihrer Persönlichkeit verstärken. In Lost Ctrl wird relativ viel Rasterfolie eingesetzt, was jedoch recht gut zum Science-Fiction-Setting passt. Der Titel ist auf dem kleinen Taschenbuch mit blauem Glanzeffekt gedruckt, was dem Manga etwas edler als die große Masse aussehen lässt.
Fazit
Lost Ctrl begeistert mit einer komplexen dystopischen Story, auf die man sich allerdings auch einlassen muss. Virtuelle Welten und das reale Leben verschwimmen ineinander und die Zukunft, die Evelyne Park zeichnet, erscheint uns gleichzeitig fremdartig und nah. Das Netz ist allgegenwärtig und man kann sich nie sicher sein, ob die Gedanken auch wirklich die eigenen sind. Ein unheimlich interessanter Auftaktband mit herrlich futuristischer Atmosphäre, der definitiv hungrig auf mehr macht. 4 von 5 Punkten.