Serie: Eine Reihe betrüblicher Ereignisse aka Die schaurige Geschichte von Violet, Sunny und Klaus aka Schauriger Schlamassel (Bände 6 und 7) Autor: Lemony Snicket Eine Besprechung / Rezension von Rainer Skupsch |
Jeder der dreizehn Bände der Reihe betrüblicher Ereignisse beginnt mit einer Widmung Lemony Snickets an seine leider allzu früh verblichene unsterbliche Geliebte Beatrice. Zu Band 7 etwa fielen dem Erzähler folgende lyrische Zeilen ein:
"Wenn wir zusammen waren, war ich atemlos.
Nun bist du es."
Snicket (bzw. der eigentliche Autor, Daniel Handler) variiert in diesen Widmungen jedesmal in wechselndem Wortlaut dasselbe Prinzip: Du warst das Licht meines Lebens, und jetzt bist du tot.
Leser meiner bisherigen Rezensionen zur Serie wissen, dass die Romane als Ganzes ebenso aufgebaut sind: Sie wiederholen mit kleinen Abänderungen die immer gleiche Story. Dabei karikiert Handler für seine junge Leserschaft literarische Konventionen (im Zitat oben das Pathos von Widmungen sowie den pietätvollen Umgang mit dem Tode) und bringt einige Spitzen gegen die Welt der Erwachsenen unter. Stilistisch ist das stets ausgesprochen schlicht, jedoch sorgen m a n c h m a l phantastische Handlungsorte und überdrehte Ideen selbst bei `großen’ Lesern für ein gewisses Amüsement. Ich habe mir mittlerweile angewöhnt, die Bücher als Kinderbuch-Pendants zu Cartoons wie Tom & Jerry anzusehen. Ich überfliege das Bekannte, konzentriere mich auf das Neue und bin nach längstens drei Stunden mit der Lektüre fertig. Damit gehöre ich als Leser wohl eher zu einer Minderheit: Wenn man sich bei Amazon die Lesermeinungen zu Handlers 1. Band durchliest, findet man fast ausschließlich Lobpreisungen bzw. Hinrichtungen (bei späteren Büchern ist die Suche sinnlos, weil die Hasser längst abgesprungen sind).
"Wo bleibt der Inhalt?", werden Sie, lieber Leser, sich fragen - und Sie haben ja so Recht!
Band 6: Die dunkle Allee
Nach der menschlichen wie künstlerischen Katastrophe von Band 5 [wir erinnern uns: Am Ende dieses Tiefpunktes der abendländischen Kultur entführte der schurkische Graf Olaf die zwei Quagmeir-Drillinge, und damit die einzigen Freunde, die die Baudelaire-Kinder Violet (14), Klaus (12-13) und Sunny (1-2) seit ihrem furchtbaren Schicksalsschlag gewonnen hatten] kehren unsere drei Helden in ihre Heimatstadt zurück, um fortan - wenige Straßen von ihrem früheren Elternhaus entfernt - in der Dunklen Allee 667 bei Tante Esmé und Onkel Jerome Elend zu leben. Die beiden bewohnen ein Penthaus mit mehreren hundert Zimmern auf der 66. Etage eines Wolkenkratzers. Esmé ist die stahlharte sechstwichtigste Finanzberaterin der Stadt, ihr Gatte gutmütig, ein Waschlappen und auf Gedeih und Verderb auf das Geld seiner Ehefrau angewiesen. Betrüblicherweise für die Baudelaires sind die Elends (wie alle Bewohner dieses Apartmenthauses) absolute `fashion slaves’ und haben die Waisen nur deshalb bei sich aufgenommen, weil das gerade ebenso mega-in istwie Nadelstreifenanzüge, seltsame Cocktails und Treppensteigen (!).
Die Probleme von Violet, Klaus und Sunny interessieren die Erwachsenen einen feuchten Kehricht. Während die Kinder sich seit der Entführung der Quagmeirs den Kopf darüber zerbrechen, was die zwei Buchstaben "F. F." bedeuten (offenbar ein Geheimnis, auf das ihre Freunde in der Schule des Schreckens gestoßen waren), fiebert Esmé Elend auf die von ihr geplante In-Auktion hin, die ansteht und bei der sie sämtliche Einnahmen einem wohltätigen Zweck zuzuführen gedenkt - ihrem Bankkonto. Für diese Veranstaltung hat Esmé den berühmten (?) Auktionator Gunther engagiert. Sie erraten es sicher: wieder eine neue Verkleidung von Graf Olaf. Dramatisch wird es, als klar wird, dass auch Duncan und Isidora Quagmeir sich in dem Haus aufhalten. Was folgt, sind fast schon 'normale’ (und spannende) abenteuerliche Verwicklungen, in denen ein stillgelegter Fahrstuhlschacht, unterirdische Gänge und die große In-Auktion eine wichtige Rolle spielen.
Die dunkle Allee hat einige lichte Momente vorzuweisen (und das nicht nur deswegen, weil früh im Buch ein neuer Modetrend vorschreibt, alle Bäume in der Straße abzuholzen). Die Modeverrücktheit der Erwachsenen wird wenig subtil, jedoch schön aberwitzig beschrieben; Esmés gnadenlose Herrschaft über Jerome bietet ungewohnt krassen Realismus; und ... Sunny fängt endlich an, verständliche Wörter zu benutzen. (Es ist schon komisch, wenn sich ein Baby mit dem Schrei "Geronimo!" in einen Abgrund stürzt.)
Natürlich hat der Roman kein glückliches Ende: Die Quagmeirs werden nicht gerettet (weil Handler anschaulich zeigen will, was man in der Literatur unter einem "Roten Hering" versteht), und Esmé ist als Vormund ungeeignet. So kommt denn, was kommen muss,
Band 7: Das düstere Dorf.
Mr. Poe gehen mal wieder die Verwandten aus, weshalb er auf die Idee verfällt, die Baudelaires bei der Aktion "Man braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen" einzuschreiben. Bei diesem Projekt teilt sich eine ganze Gemeinde die Vormundschaft über ein Waisenkind. Violet, Klaus und Sunny sind nicht abgeneigt, und als sie auf der Auswahlliste das Dorf "F.F." entdecken, ist ihr Entschluss getroffen.
Nach einer langen Busfahrt entpuppt sich ihr neues Zuhause als ein Ort im plattesten Flachland mit einer immensen Krähenpopulation, gegen die Die Vögel in Hitchcocks Bodega Bay `Peanuts’ sind. Es stellt sich heraus, dass das Dorf vor 306 Jahren von Federvieh-Freunden gegründet wurde und seitdem zu einer kleinkarierten Diktatur degeneriert ist, die diesen Leser stark an die amerikanischen Pilgerväter des 17. Jahrhunderts erinnerte. Alle Einwohner tragen hohe, Krähen nachempfundene Hüte, und der alles beherrschende Ältestenrat hat im Laufe der Zeit so viele Gesetze erlassen, dass es vollkommen unmöglich ist, nicht ständig gegen irgendeines zu verstoßen. An dem Adoptionsprojekt hat die Gemeinde nur teilgenommen, um billige Handlanger zu bekommen. Bisher musste der gutmütige Gemeindearbeiter Hektor allein sämtliche anfallenden Aufgaben erledigen. Künftig sollen die Baudelaires bei ihm wohnen und ihm zur Hand gehen.
Wie immer hat diese Ausgangslage jedoch nicht lange Bestand. Bald nimmt die neue Dorfpolizistin einen Fremden fest, den sie (offensichtlich unbegründet) für Graf Olaf hält, obwohl er verzweifelt beteuert, Jacques Snicket zu heißen und die Eltern der Baudelaires gekannt zu haben. Gleichzeitig findet Hektor Papierfetzen mit kryptischen Hilferufen Isidora Quagmeirs. Von nun an wird es wieder eng. Ein berühmter (?) Detektiv namens Dupin (äh, Graf Olaf) erscheint auf der Bildfläche, die drei Waisen drohen auf dem Scheiterhaufen zu landen, und dann ist da noch das ungeklärte Schicksal der Quagmeirs.
Daniel Handlers Ideenquellen für den 7. Band sind Alfred Hitchcock sowie Literaturklassiker wie Nathaniel Hawthornes Der scharlachrote Buchstabe und Arthur Millers Hexenjagd. Das Buch beschreibt das Wesen und die Dynamik eines (Lynch-)Mobs, verhöhnt das Konzept der "Coolness" als Totschlagargument (Dupin lehnt jeden Gedankengang ab, der ihm uncool erscheint) und wirft wieder mit bekannten Namen der Kulturgeschichte um sich: Der Detektiv "Dupin" sowie der höchste Baum des Ortes, "Nimmermehr", spielen auf Edgar Allan Poe an; "Hektor" war ein trojanischer Sagenprinz - und "Isadora Duncan" eine Wegbereiterin des modernen Tanzes.
Insgesamt ist auch die Mixtur des 7. Romans durchaus bekömmlich, zumal Sunny sich am Ende auf ihre Füße stellt und beschließt, fortan nicht mehr durchs Leben zu k r a b b e l n. Weniger wichtig scheint mir, dass offenbar die Familie der Snickets langsam in die Handlung eingeführt werden soll. Da sich die Bücher eh wie irrationale Alpträume lesen, erscheinen mir familiäre Beziehungen als unerhebliche Versatzstücke aus dem Repertoire aller Serienautoren von Akte X bis Desperate Housewives. Apropos Alpträume: Sollte Kinderliteratur nicht auch immer Lösungsmöglichkeiten aufzeigen, helfen, sich im Leben zurechtzufinden? Natürlich strengen Violet, Klaus und Sunny regelmäßig halbwegs erfolgreich ihre grauen Zellen an, aber sie leben doch in einer Welt des Wahnsinns und der Willkür, in der ich, als Erwachsener, nicht zehn Minuten leben möchte. Ziemlich bedrückend, aber vielleicht sind ja Kinder härter gesotten?
Sei’s drum. Falls Sie tatsächlich bis hierher durchgehalten haben, sind Sie vielleicht auch das nächste Mal wieder dabei, wenn es um Das schaurige Spital und Der grausige Jahrmarkt geht?